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Eigene Wege
(Man muß nicht alle Geheimnisse lösen) Ein neues Heim
Es war ruhiger geworden in den letzten Tagen. Der Trubel der Begrüßung meiner kleinen Gruppe von Walis durch die Naturgeister war abgeklungen. Wir lebten uns langsam in dem Haus ein, daß uns die Naturgeister hier in Titania, ihrer großen Handelsstadt am Binnenmeer von Yddia, zur Verfügung gestellt hatten. Es ist ein Haus, wie ich es bisher noch nicht gesehen habe. Obwohl das Gebäude über drei Stockwerke verfügt, wirkt es nicht klobig. Ganz im Gegenteil: Mit seinen vielen kleinen Türmchen und Erkern macht dieses verwinkelte Haus einen geradezu verspielten Eindruck. Es sieht eher aus, als sei es dem Traum eines Silberelfen-Kindes entsprungen. Das Haus ist mit allen möglichen Kletterpflanzen bewachsen. Sogar ein kleiner Teil der ersten und fast die Hälfte der zweiten Etage sind eine Art Garten. Trotz der Nähe zum Stadtzentrum ist es an diesem Ort ruhig. Nun, zum Einen wohnen wir, (Rodrik, der Holzschnitzer, Kjelt, der Krieger und ich, Jalmur, der Skalde und walischer Botschafter in Titania) nicht direkt an der Hauptstraße. Unser neues Heim ist Teil eines kleinen Parkes. Zum anderen herrscht in Titania allgemein nicht der Lärm, den ich für eine Stadt dieser Größe erwartet hatte. Vor dem Haus liegt im Schatten einiger großer Bäume ein kleiner mit Seerosen bedeckter Teich. An die Rückseite des Hauses schließt sich eine Weide an, die von Büschen und Sträuchern begrenzt ist. Max, mein treuer vierbeiniger Gefährte döst unter einem der Bäume, die vereinzelt auf dieser Weide stehen. Zuerst wollte ich ihn bei den Elfenpferden lassen, auf deren Weide er von den Naturgeister bei meiner Ankunft in Titania gebracht worden war. Aber Safielle del Arya meinte, es würde mir gut tun, wenn ich meine gewohnten Gefährten um mich hätte. Und damit Max nicht so allein ist, haben die Naturgeister ein paar von ihren Pferden mit auf die Weide gestellt. Und Max scheint sich sichtlich wohl zu fühlen. Daß er für ein Pferd schon ein gutes Alter erreicht hat, sieht man ihm nicht an. Es ist ein schöner Anblick, wenn sie ausgelassen auf der Weide toben. Ich spüre einen leichten Wind in meinem Haar. Eine frische Brise bringt den Geruch des Binnenmeeres bis zu mir in das Stadtzentrum. In diesem Moment kommt mir wieder eine Unterhaltung in den Sinn, die ich in den ersten Tagen in Titania geführt habe. Verschiedene Standpunkte
Ich lebte nun schon ein paar Monde in Titania. Und natürlich brachten die ersten Tage enorm viel neues. Viele neue Gesichter kreuzten meinen Weg. Weit mehr, als ich im Gedächnis behalten konnte. Doch an eine Begebenheit erinnere ich mich noch sehr gut: Finyen del Lian, die Silberelfe, hatte Rodrik, Kjelt und mir gerade die wichtigsten Gesetze der Naturgeister, die Gesetze der Natur, erklärt. Diese Gesetze stehen auf einer großen Steele, die auf dem Marktplatz der Stadt steht. Meine walischen Gefährten waren schon wieder gegangen, doch ich hatte noch einige Fragen. "Sag mir, Finyen, warum kann ich diese seltsamen Schriftzeichen auf der Steele lesen? Ich kann mich ja in Allanan Estrivel einigermaßen mit euch verständigen. Doch daß ihr auch eine Schrift habt, wußte ich nicht. Geschweige denn, daß ich sie lesen kann." "Nun, was du da liest, ist auch nicht wirklich unsere Schrift.", entgegnete Finyen mit einem Lächeln, "Zumindest nicht im eigentlichen Sinn. Wir haben die Tafel mit unserer Magie so gefertigt, daß jeder, der lesen kann, die Schriftzeichen so erkennt, als seien sie in seiner Sprache geschrieben." "Bei Hyldir! Das es so etwas gibt. Du spielst mir jetzt doch keinen Streich?" "Aber nein," beteuerte Finyen, "dies ist die reine Wahrheit." "Hätte mir das jetzt irgend jemand anderes an einem anderen Ort als diesen erzählt, so würde ich ihm kein Wort glauben. Doch ich kenne euch Naturgeister nun schon einige Zeit und glaube zu verstehen, wie ihr die Dinge seht und mit ihnen umgeht. Ich hoffe ich werde den Erwartungen gerecht werden und mich der Aufgabe gewachsen zeigen, die ihr Naturgeister in mir als einen Botschafter der Walis seht." "Ich denke, das wirst du schon schaffen, mein Freund.", meint Finyen aufmunternd. "Das Wichtigste wird sowieso erstmal sein, daß wir Naturgeister euch Menschen besser verstehen." "Nun, dann will ich versuchen, euch die Lebensart der walischen Bahunis etwas näher zu bringen. Das ist auch der Grund, warum ich Rodrik und Kjelt mitgenommen habe. Ich denke, sie können euch am besten zeigen, wie verschieden wir sind." "War es unbedingt nötig, einen Krieger mitzunehmen?", fragt Finyen besorgt. "Hier ist ein Ort des Friedens. Kein Naturgeist wird euch etwas antun. Und Menschen oder andere Wesen, deren Streben auf die Vernichtung eines Lebens ausgerichtet sind, werden rechtzeitig von uns erkannt und der Stadt verwiesen. Es gibt also keinen Grund, warum er hier ist." Damit hatte Finyen genau die Frage gestellt, die schwer zu beantworten war. Doch ich hatte auf der Fahrt von Neu-Westurgoi nach Titania genug Zeit, mir über die richtige Art der Antwort Gedanken zu machen. Nun würde sich zeigen, ob ich einem Naturgeist die Denkweise eines Walis vermitteln konnte. "Du hast Recht, Finyen. Hier in Titania gibt es eigentlich keinen Grund, warum ich einen Krieger mitgenommen habe. Doch in Kjelts Fall treffen zwei Dinge aufeinander. Zum Einen ist es bei den Walis Sitte, daß wichtige und geachtete Personen auch ein Gefolge haben. Oft befinden sich auch einige Krieger darunter. Der Jarkhan zum Beispiel hat zusätzlich noch einen Schildträger, der ihn im Kampf Deckung gibt. Ich habe die Walis überzeugen können, daß mich nur Rodrik und Kjelt begleiten und ab und zu das Langboot von Snjörd vorbeischaut. Und habt keine Bedenken wegen Kjelt. Er hat einen persönlichen Grund, warum er mich begleitet. Eine Schamanin hat ihm folgendes weisgesagt: Du wirst einmal einen Wali in ein fremdes, fernes Land begleiten. Dein Leben dort wird schwer für dich sein. Doch du wirst eines Tages diesem Wali und vielen anderen Wesen das Leben retten. So hat er es mir erzählt." Doch an Finyens skeptischen Blick ist zu erkennen, daß sie noch nicht überzeugt ist. Also werde ich ihr die Zusammenhänge auf eine möglichst einfache Art erläutern: "Kjelt glaubt, daß er sein Schicksal erfüllt, indem er mich begleitet. Er war nicht von seinem Entschluß abzubringen. Ich habe lange mit ihm geredet und ihn etwas auf euch vorbereitet. Er wird euch nichts tun, da ich ihn sonst zurückschicken werde. Und wenn ich ihn zurückschicke, erfüllt sich sein Schicksal nicht." "Und du glaubst, daß Kjelt sich genau so verhalten wird, wie du sagst, Jalmur? Nur weil er glaubt, er geht einen vorbestimmten Weg?" "Ja Finyen. Kjelt wird sich euch gegenüber friedlich verhalten. Er hat mir sein Wort gegeben! Und so wild und grobschlächtig die Walis auch scheinen mögen, so haben wir auch unsere Werte und Gesetze: Gastfreundschaft, ein gegebenes Wort oder ein Schwur, um nur einige Beispiele zu nennen. Wir glauben an das, was Godhis und Schamanen uns vorhersagen. Sie sind die einzigen, die sich ernsthaft mit Magie beschäftigen. Kjelt ist nur ein einfacher Krieger, der sehr wenig von dem versteht, was ihr seid und wie ihr denkt. Aber er wird sein Wort mir gegenüber halten. Und mit der Zeit wird auch er euch etwas besser kennenlernen." "Es wird uns freuen, wenn es so ist. Und jetzt laß mich dir einige andere Naturgeister vorstellen." Finyen will sich gerade zu einer Gruppe von unterschiedlichen Wesen gesellen. Es gelingt mir gerade noch, sie für einen Augenblick zurückzuhalten. "Bitte rede langsam mit ihnen, damit mir nicht zuviel von eurer Unterhaltung verloren geht. Ich spreche eure Sprache noch nicht sehr gut." "In Ordnung, Jalmur. Ich werde zusehen, daß du der Unterhaltung folgen kannst. Sie werden ohnehin erstaunt sein, daß du Allanan Estrivel sprichst. So etwas haben sie bei einem Bahuni noch nicht erlebt." Mit diesen Worten nähern wir uns einer Gruppe von Elfen, Kobolden und Feen. Schnell flüstere ich Finyen noch zu: "Ich bräuchte eigentlich jemanden, der mir das Allanan Estrivel besser beibringt." "Ich schicke dir jemand in den nächsten Tagen.", flüstert Finyen verschwörerisch zurück. Dann zwinkert sie mir noch schelmenhaft zu. Und bevor ich mir richtig Gedanken machen kann, was dieses Zwinkern wohl zu bedeuten hat, bin ich auch schon von neugierigen Naturgeistern umringt. Als zwei Tage später Safielle del Arya bei mir auftauchte, wurde mir Finyens Augenzwinkern klar. Meine Lehrerin ist bildschön und so ist es eine Freude, das Allanan Estrivel und manches andere von der Silberelfe zu lernen. Und ich hätte noch mehr Zeit mit ihr verbracht, wäre nicht ab und zu Vanyar, der Waldelf, aufgetaucht, um uns die wichtigsten Orte in Titania zu zeigen. Oder hätte nicht Rodrik ab und zu wieder einige seiner geschnitzten Holzfiguren vorbeigebracht. Ebenso mußte auch Kjelt von Zeit zu Zeit nachsehen, ob sich nicht sein Schicksal erfüllen würde. Und natürlich besuchte mich auch immer wieder einer jener Naturgeister, die ich inzwischen als Freunde bezeichne. Neue Wege muß man entdecken
Auch nach einigen Monden in Titania muß ich immer noch damit rechnen, daß unverhofft Besuch auftaucht. Mal fliegt eine neugierige Fee zu einem der Fenster herein. Dann taucht ab und zu ein Kobold zwischen den Töpfen auf. Inzwischen wohnt sogar ein Kräutermännlein in dem kleinen Garten, den Rodrik hinter dem Haus angelegt hatte. Dabei konnte man nicht direkt sagen, daß der kleine Kräutergarten "hinter" dem Haus lag. Dieses Haus war eigentlich von allen Seiten zu erreichen. Der Weg "vorne" zur Tür dieses Gebäudes war natürlich der Einladendste. Immerhin waren dort ein klarer Teich, schattige Bäume und natürlich die Bank aus lebendigem Holz, aus dem immer wieder frische Triebe wuchsen, die zur Rast einladend neben der Eingangstür stand. Doch wenn man sich die Mühe machte, konnten auch andere Zugänge zu meinem Heim entdecken. Als sich die Hektik der ersten Tagen nach meiner Ankunft in Titania gelegt hatte, probierte ich aus, auch auf anderen Wege zu diesem Haus zu gelangen. Die Idee stammt nicht von mir. Das hatte sich ergeben, als ich mich von Gnisseldrix überreden ließ, mir unbedingt die besten Wege durch Titania zu zeigen. Natürlich waren das die Pfade, die der Waldkobold bevorzugt ging. Meistens folgten wir den wundervoll angelegten Straßen. Aber an bestimmten Stellen gab es einige "ganz tolle" Abkürzungen, oder noch etwas "ganz wundervoll Interessantes", oder es vermutete, daß dort etwas "irre Lustiges" war. Bei dieser Stadtführung durch Gnisseldrix fand ich drei Sachen heraus: Einige seiner Pfade ging das kleine Wesen zum ersten Mal, denn desöfteren konnte vernahm ich einen erstaunten Laut der Überraschung aus seinem Mund. Als hätte Gnisseldrix gerade wieder etwas neues entdeckt. Auch kehrten wir immer auf unterschiedlichen Wegen zu meinem neuen Heim zurück. Was Gnisseldrix betrifft, scheinen die Waldkobolde sehr sprunghaft beim Ausdruck ihrer Gefühle zu sein. Das Wesen war richtig fröhlich und gutgelaunt, wenn ich mit ihm auch die umständlichsten Wege bestritt, die durch meine Größe dann natürlich keine Abkürzung mehr waren. Aber es wurde ganz schnell traurig, wenn ich dann einen "wahnsinnig interessanten" Weg doch nicht mitgehen wollte. Doch genauso schnell schwingt Gnisseldrix Stimmung wieder um, wenn ich diesen "wahnsinnig interessanten" Weg dann doch noch mitgehe. Natürlich wurde aus dem Gehen dann bald wieder ein Klettern über Stock und Stein. Auch scheint es ein geheimnisvolles Wissen zu besitzen. Gnisseldrix sagte mir immer wieder beim abendlichen Abschied, daß ich meine eigene Wege in Titania finden sollte. Nun, ich habe daraufhin angefangen herauszufinden, auf welchen Wegen meine Besucher zu mir kommen. Und ob außer Rodrik, Kjelt und mir noch Naturgeister den Ort bewohnten, der unser Heim in Titania ist. Also machte ich mich auf ungewöhnlichen Wegen mit meiner Umgebung vertraut, indem ich auch die Wege ging, die jene Wesen benutzen könnten, die kleiner waren als ich. Dazu habe ich mich durch manches Gebüsch gezwängt; und das nicht immer aufrecht. Warum ich das tat, kann ich eigentlich nicht genau sagen. Es war plötzlich wieder dieses Gefühl da, daß ich irgendwie wieder der kleine Junge in Gröndal im fernen Waligoi war, der gerade die versteckten Wege suchte, während die Erwachsenen die leichten, ausgetretenen Wege benutzten. Es war schon seltsam, aber der Ort, an dem ich jetzt wohne, hat einen gewissen Zauber, den ich nicht erklären kann. Auf meinen neu entdeckten Wegen erschien mir manchmal kein Weiterkommen mehr möglich. Aber dann fand sich doch noch ein versteckter Pfad. So als ob die Pflanzen mal kurz irgendwie Platz gemacht hätten. Auch scheint mir das Haus innen etwas größer zu sein, als es von außen scheint. Zumindest ist die Anordnung der Zimmer für uns Walis doch ungewöhnlich. Und auch meine Begleiter scheinen sich langsam einzuleben. Rodrik hat einen kleinen Kräutergarten angelegt. Zudem ist er immer auf der Suche nach totem Holz, aus dem er dann seine Figuren schnitzt. Kjelt hält sich immer noch lieber im Haus auf. Aber auch er scheint sich langsam an die vielen fremden Wesen zu gewöhnen. Beobachtung im Morgennebel
Heute scheint ein wichtiger Tag zu sein. Waren die Naturgeister gestern noch auf allen Straßen Titanias zu sehen, so wirkt die Stadt heute wie ausgestorben. Es ist schon Mittagszeit, und ich habe seit Stunden keines dieser seltsamen Wesen gesehen. Sie scheinen alle in den frühen Morgenstunden verschwunden zu sein. Wie die Elfen, die ihre Pferde von der Weide hinter meinem Haus abgeholt haben. Sie waren dabei sehr leise vorgegangen. So als wollten sie uns nicht stören. Ich hätte sie nicht gehört, wäre ich nicht zufällig wach gewesen. Ich hatte eine unruhige Nacht mit vielen Träumen. Seltsamerweise konnte ich mich an keinen dieser Träume erinnern. Und da ich sowieso schon einmal wach war, konnte ich mir auch ansehen, wie die Sonne aufgeht und ihre wärmenden, goldgelben Strahlen durch den Morgennebel schickte. Und da habe ich diese grazilen Wesen auf der Weide gesehen. Wären es Menschen gewesen, ich hätte geglaubt, sie wollten die Pferde stehlen. Aber es waren Naturgeister. Ihre schlanken Gestalten waren eindeutig die von Elfen. Jeder war mit einem weißen Gewand bekleidet, und doch glich keines davon dem anderen. Einige Gewänder waren mit schlichten Borten verziehrt, andere wiesen weiße, fast durchsichtige Bänder aus Feenseide auf. Die Elfen unterhielten sich flüsternd in Allanan Estrivel. Und die Pferde hatten zu ihnen ein Vertrauen, daß sie nie bei einem Menschen gezeigt hatten. In einer unnachahmlichen Eleganz sind die weißgekleideten Gestalten dann auf die Pferde gesprungen und davongeritten. Die Büsche, die die Weide begrenzen, scheinen ihnen irgendwie Platz gemacht zu haben. Oder es existiert ein Tor, daß ich bisher noch nicht entdeckt habe. Jedenfalls sind die Pferde nicht über die natürliche Begrenzung der Weide gesprungen. Sie sind einfach hindurchgeritten und im Morgennebel verschwunden. Auch Finyen, Vanyar, Gnisseldrix, Cendrasch und all die anderen Naturgeister, die meine Freunde sind, scheint der Morgennebel verschluckt zu haben. Gerade jetzt, in dieser eigenartigen Stille, fällt mir auf, daß auch die Ruhigsten von ihnen in letzter Zeit von einer ungewohnten Unruhe erfaßt wurden. Gerade Safielle del Arya hat sich gestern sehr seltsam verhalten. Sie erzählte irgend etwas von einer wilden Jagd, einem großen Ereignis für die Naturgeister, an der sie teilnehmen würde. Da sie aber ausweichend auf meine Fragen bezüglich dieser Jagd reagierte, hatte ich das Thema auf sich beruhen lassen. Verdammt, hätte ich dann gestern doch nur den einen oder anderen von meinen Naturgeister-Freunden zu dieser "Wilden Jagd" befragt. Dann wüßte ich jetzt wohl mehr, warum sich die Naturgeister so seltsam benahmen. Sie werden doch nicht alle auf diese Wilde Jagd gegangen sein? Ein Sturm zieht auf
Ich stehe im Hafen von Titania und blicke in Richtung Meer. Der Spaziergang hierher hat mir gut getan. Und auch Rodrik und Kjelt konnten diese eigenartige Stille in unserem neuen Heim nicht ertragen. So sind wir gemeinsam durch die verlassenen Straßen Titanias zum Hafen gegangen. Aber wir sind niemandem begegnet. Kjelt ist sehr unruhig und blickt sich immer wieder um. Gerade er, dem es von uns am unangenehmsten ist, wenn die Naturgeister um ihn herum sind, versucht, wenigstens den Schatten oder eine Bewegung von einem Naturgeist zu erhaschen. Aber er hat ebensowenig Glück wie wir. Der Wind, der vom Binnenmeer herüberweht, ist stärker geworden. Dort, wo viele Tagesreisen entfernt die Geisterinsel liegen soll, haben sich Wolken angesammelt. Die ersten werden schon mit dem Wind herübergetragen. Die Geschwindigkeit, mit der sie über den Himmel ziehen, läßt darauf schließen, daß ein Sturm aufzieht. Von der Geisterinsel wird er nach Titania kommen. Sind die Naturgeister deshalb alle verschwunden? Weil sie vielleicht eine große Katastrophe gesehen haben? Aber warum haben mich dann meine Freunde nicht gewarnt? Nein, der aufziehende Sturm scheint wohl für unser Leben nicht gefährlich zu sein. Denn dann hätte uns garantiert irgend jemand von ihnen gewarnt. "Sieh, Jalmur." Kjelt ist der erste, der unser Schweigen bricht. Seine Hand weist hinaus auf das Meer, wo sich schwarze Wolken aufgetürmt haben. Zwischen ihnen zucken gleißende Blitze. "Ist das das Ende der Welt?" "Nein Kjelt. Ich glaube nicht, daß dort das Ende der Welt auf uns zukommt.", antworte ich ihm. "Aber es ist ein gewaltiger Sturm, der dort aufzieht." "Bald wird er hier sein.", ertönt die kratzige Stimme von Rodrik. "Und wer weiß, vielleicht ist das doch das Ende der Welt." "Was sagst du da?", schreit Kjelt ihn an. "Erkläre uns, was du meinst.", fordere ich Rodrik auf. "Es könnte sein, daß wir alle tot sind." Kaum waren diese Worte von Rodrik ausgesprochen, stieß Kjelt einen erstickenden, kehligen Schrei aus. Doch Rodrik ließ sich nicht unterbrechen. "Vielleicht sind wir alle in der letzten Nacht gestorben und nun im Reich der Toten. Das erklärt auch, warum wir keinen Naturgeistern begegnen." "Das stimmt nicht!", entgegne ich. "Ich habe heute früh noch einige Elfen gesehen, wie sie ihre Pferde von der Weide abgeholt haben." Ich erzähle ihnen von meiner Beobachtung heute morgen. Das scheint zumindest Kjelt wieder zu beruhigen. Inzwischen hat der Krieger seine große Axt so fest mit beiden Händen umfaßt, daß die Fingerknöchel weiß hervortreten. Es ist, als ob er sich an etwas Klammern muß, um sich zu beweisen, daß er noch lebendig ist. Aber immer noch sind beide nicht überzeugt. "Kjelt, Rodrik, denkt doch mal nach!", fordere ich die beiden Walis auf. "Wenn wir tot wären, könnten wir doch überhaupt nichts mehr fühlen. Wie kommt es dann, daß ihr zum Beispiel den Wind in euren Haaren spürt? Und als Tote müßtet ihr eigentlich keinen Schmerz fühlen." Mit einer schnellen Bewegung kneife ich Rodrik kräftig ihn in die Hand und ziehe Kjelt heftig am Ohr. Beide stoßen einen Schmerzensschrei aus und blicken mich verwundert an. "Und sagt mir mal, wo all die anderen Toten sind?", frage ich sie in einem verschwörenden Ton. "Inzwischen müßte es von denen ja genug geben." "Ähh..." Mehr kommt nicht aus ihren Mündern. Die Beiden reiben ihre schmerzenden Körperteile und sehen aus, als hätte ich sie eben aus einem bösen Traum geholt. Aber ihre Aufmerksamkeit gilt jetzt wieder ihnen und ihrer Umgebung. "Kommt!", weise ich die beiden an, "Laßt uns wieder zu unserem Haus zurüchgehen. Wenn uns hier der Sturm erwischt, werden uns die Wellen auf das Binnenmeer reißen." Schweigend folgen sie mir auf dem Weg zurück zum Stadtzentrum. Noch immer begegnen wir niemanden. "Ich werde versuchen, dieses Geheimnis ergründen, daß uns umgibt.", sage ich zu mir selbst. Das bringt mir einen erstaunten Blick meiner Gefährten ein. "Heute noch.", flüstere ich. Aber diese Worte werden vom Wind fortgetragen. Lausche dem Wind
Wir sind wieder sicher in unserem neuen Heim. Die ersten Ausläufer des Sturmes haben Titania erreicht. Der Wind biegt bereits die ersten Äste der Bäume und zieht an den Kletterpflanzen, die unser Heim bewachsen. Meine Gefährten haben sich jeder in eine Ecke des Hauses zurückgezogen. Kjelt ist unten im Erdgeschoß am Fuß der Treppe, die nach oben führt. Mein Versuch, ihn davon abzuhalten können, die Tür mit dem schweren Tisch zu verbarrikadieren, hat er ignoriert. "Wenn irgendwas durch diese Tür kommt, wird es Bekanntschaft mit meiner Axt machen! Die Leute, die unsere Hilfe bräuchten, sind doch eh alle fort.", war seine einleuchtende Argumentation. Ich habe ihn jedoch in unmißverständlichem Ton angewiesen, nicht blindwütig anzugreifen. Er sollte sich einfach an die Treppe stellen und sich gegen diejenigen verteidigen, die mit Gewalt nach oben wollten., die wirklich auf Kampf aus sind. Damit gab er sich zähneknirschend zufrieden. Rodrik schnitzt in der ersten Etage ein paar kleine Figuren. Es sind ausnahmslos Naturgeister, die auf den unterschiedlichsten Tieren reiten. Er scheint einer Eingebung zu folgen. Dabei ist er völlig in seine Arbeit vertieft und nimmt seine Umgebung kaum noch war. Auch mich hat er nicht bemerkt, als ich eben nach ihm gesehen habe. Nun gut, so ist auch Rodrik beschäftigt, bis der Sturm vorrübergezogen ist. Und ich sitze hier oben im dritten Stockwerk und grübele über meine Entdeckung nach. Seltsam, ich bin mir sicher, die Kleidertruhe nicht geöffnet zu haben, als wir zum Hafen gingen. Und ebensowenig habe ich meine besten Gewandungsstücke auf den offenen Deckel gelegt. Auch von meinen walischen Gefährten kann es niemand gewesen sein, die waren ja mit mir am Hafen von Titania. Aber wer war es dann? War einer der Naturgeister kurz zurückgekommen, um mir etwas mitzuteilen? Und wenn es so ist, bei Hyldir, was wollte mir dieses Wesen damit sagen? Da fegt von außen ein Windhauch herein, der mich aus meinen Gedanken reißt. So als wollte jemand sagen: "Wo bleibst du? Wir warten bereits auf dich." Und plötzlich weiß ich, daß die Antworten auf die Fragen, die mich heute bewegt haben, dort draußen sind. Frei wie ein Vogel
Ich stehe nun ganz oben, in dem freien Teil des dritten Stockwerkes des Hauses, das jetzt mein Heim ist. Der Wind zerrt an meiner Kleidung. Der Himmel ist dunkel geworden. Die ersten Blitze zucken schon. Und der Donner grollt gewaltig. Bald wird es wohl anfangen zu regen. Mein bestes Gewand habe ich angezogen; die rote Reitertunika mit der Goldborte. Die Lederschnur mit den vier Wolfszähnen, Zeichen des Adelsranges bei den Walis, ist mein einziger Halsschmuck. Ich habe meinem schlichten Gürtel angelegt. Nur zwei kleine Taschen und das Methorn, in das mir Hartur die Hyldir eingearbeitet hat, zieren ihn. Eigentlich wollte ich auch noch ein Messer mitnehmen, aber es fühlte sich irgendwie nicht richtig an. Darüber trage ich einen weißen Umhang mit einer seltsam schimmernden Borte. Wie der in meine Kleidertruhe gekommen ist, weiß ich wirklich nicht. Es ist mir jetzt auch nicht wichtig, dies zu wissen. Wenn mich mal irgend jemand nach dem 'warum' meiner jetzt folgenden Handlungen fragen wird, so kann ich ihm keine Erklärung geben. Es ist wie ein inneren Zwang; etwas, das jetzt getan werden muß. Und mein Handeln ist gut; ich spüre es förmlich. Es ist vielleicht sogar das, was die Naturgeister in mir zu erkennen hoffen. Aber das wird wohl ihr Geheimnis bleiben. Festen Schrittes gehe ich auf die kleine Begrenzung zu, die verhindern soll, daß jemand von hier oben herunterfällt. Mit Leichtigkeit habe ich sie überwunden und klettere die Hauswand herunter. Mit Hilfe der überall am Gebäude wachsenden Kletterpflanzen ist dies ja auch ein Kinderspiel. Aus dem kleinen Schuppen, der an der Hauswand zur Weide hin steht, entnehme ich nur das Zaumzeug für Max. Den Sattel werde ich nicht brauchen. Pah, ich habe ja auch als Kind keinen benötigt, als ich geritten bin. Max, mein treues Pferd, wartet schon auf der Weide. Der Wind spielt wild mit seiner Mähne und in seinem Schweif. Er ist schon die ganze Zeit unruhig gewesen. So als scheint er sich auf etwas zu freuen. Geduldig läßt er sich das Zaumzeug anlegen. Ein Blick aus seinen großen Augen scheint zu sagen: "Ich habe schon den ganzen Tag auf dich gewartet. Geht es jetzt bald los?" Mit einem Satz sitze ich auf seinem Rücken. Ein Blitz zuckt und erhellt die Szene. Es muß mystisch ausgesehen haben: Ein Wali in roter Tunika und weißem Umhang auf einem schwarzen Pferd. Und schon sind wir mit einem Sprung über das Gebüsch, was die Weide begrenzt. In den Straßen von Titania lasse ich Max stolzieren, als seien wir auf einer großen Parade. Ich fühle mich frei. Alle Last der Vergangenheit ist plötzlich verschwunden. Die Fesseln des Erwachsenseins sind abgestreift. Keine Fragen mehr nach einem 'morgen'. Nur das 'heute', das 'hier und jetzt' war wichtig. Durch irgend einen geheimen Zauber ist das Kind in mir wieder erwacht. Wie der Könige der Welt reiten ich durch das große Baumtor von Titania. Und dort, hinter dem Horizont, gibt es ein neues Geheimnis zu entdecken. Dort ist der Schatz zu suchen, der sich am Ende des Regenbogens befindet. Der Sturm ergreift uns. Und plötzlich beginnt es heftig zu regnen. Ich glaube, ein Lachen zu hören. Ich lenke Max in den Wind, lasse die Zügel locker und halte mich mehr an seiner Mähne fest. Dann flüstere ich ihm zu: "Lauf!" Jalmur
1999 |