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Erwachen

Der alte, weißhaarige Silberelf saß an einem hölzernen Schreibpult, dicht über einen großen, schweren Folianten gebeugt, der allem Anschein nach noch um einiges älter war, als der Elf selber. Hin und wieder schrieb er einige Sätze in ein kleines, aber nicht minder umfangreiches Buch, das neben dem Folianten auf dem Pult lag. Durch die hohen, bunten Fenster leuchteten die Sterne hell und klar in einem wolkenlosen Sommerhimmel und der volle Mond tauchte die Straßen und Häuser von Titania in ein zauberhaftes, weißes Licht.

Dennoch war es in dem Raum, in dem der Alte saß relativ dunkel. Das Licht der beiden Kerzen, die auf dem Schreibpult in sicherer Entfernung zu den Büchern standen, schafften es kaum, den Tisch vollständig zu beleuchten. Der Alte hatte die Augen zusammengekniffen, um besser sehen zu können.

"Matthai, Ihr seid ja immer noch hier. Findet Ihr nicht, daß Ihr langsam nach Hause gehen solltet ? Eure Tochter hat heute schon dreimal nach Euch gefragt. Und außerdem ist das Licht viel zu schwach zum Lesen. Eure Augen sind auch nicht mehr die Besten." Ein hochgewachsener, junger Silberelf war leise in den Raum getreten und legte dem Alten eine Hand auf die Schulter. Der hob jetzt langsam seinen Kopf und lächelte.

"Ja, ja, ich weiß Jory, aber noch kann ich nicht gehen. Ich habe noch so viel Arbeit vor mir." sagte er und deutete auf die Bücher, die vor ihm lagen.

"Nun gut, aber könnt Ihr nicht einfach morgen früh weitermachen ? Die Bücher laufen schließlich nicht weg!"

Der Alte lachte leise, "Bist Du Dir da so sicher, Jory?"

Der junge Mann schaute ihn verdutzt an, woraufhin Matthai nur noch lauter lachte : "Glaube mir, mein junger Freund, es gibt mehr Dinge zwischen den Himmeln und den Welten Magiras, als wir es uns so träumen lassen." Er zwinkerte Jory verschmitzt zu.

"Aber, wie dem auch immer sei. Wärest Du so vielleicht so freundlich, mir noch eine Kerze zu bringen ? Du weißt doch, meine Augen sind nicht mehr die Besten." grinste Matthai.

Jory seufzte tief. Sich mit dem alten Matthai zu unterhalten war so ähnlich wie ein Besuch bei einem Orakel und meistens genau so lehrreich. Nie wußte man, ob er das was er sagte ernst meinte oder nicht. Gesetz den Fall, daß man sich überhaupt einen Reim darauf machen konnte. Der Alte selber hatte stets eine kindische Freude daran, seine Umgebung zu irritieren und schaute mit dem größten Vergnügen dabei zu, wie sich die Leute den Kopf über seine oft recht kryptischen Äußerungen zerbrachen. Ganz abgesehen davon, war Matthai auch der größte Dickkopf, den Jory kannte, und wenn er sich in den Kopf gesetzt hatte, die ganze Nacht lesend in der altehrwürdigen Bibliothek von Titania zu verbringen, dann würde ihn wohl auch niemand davon abhalten können.

"Nun gut," sagte Jory schließlich und zuckte resigniert mit den Schultern. "Ich bringe Euch noch ein paar Kerzen. Und etwas zu Essen. Und dann werde ich bei Eurer Tochter vorbeischauen und ihr sagen, daß sie sich keine Sorgen machen soll, denn ihr Vater wird lediglich die ganze Nacht auf harten Stühlen und bei schlechtem Licht über alten, verstaubten Büchern hocken, und morgen dann halb blind, mit scheußlichen Rückenschmerzen und einer elendigen Laune nach Hause zurückkehren."

Damit drehte er sich um und verschwand. Matthai lachte vergnügt. Es machte ihm großen Spaß den jungen Elfen, der immer so schrecklich ernst daher kam, ein wenig zu necken. Dann wandte sich aber wieder mit großem Ernst dem Folianten zu und war schon bald vollständig darin vertieft. Er bemerkte kaum, daß Jory nach einiger Zeit zurückkam und ihm einen Teller mit Brot, Käse und Obst, sowie einen Krug mit frischem Wasser auf das Pult stellte.

"Gute Nacht, Matthai," rief der junge Mann, als er sich anschickte, den Raum wieder zu verlassen. Ganz vertieft in das Buch schaute Matthai nicht einmal auf, sondern brummelte nur etwas in seinen kurzgeschnittenen Bart. Kopfschüttelnd verließ Jory den alten Mann.

"Glaube mir, mein Freund, es gibt mehr Dinge zwischen den Himmeln und Welten Magiras, als wir es uns träumen lassen..." Das waren die ersten Worte, die Younani hörte. Und sie war einigermaßen überrascht, denn bisher hatte sie zwar alle Worte, die der alte Mann aufgeschrieben hatte spüren können, ja sie hatte auch die Bedeutung der Worte weitestgehend erfassen können, aber sie hatte sie nicht gehört. Erstaunlich. Und was noch viel erstaunlicher war ... sie begann auf einmal Schatten und Umrisse wahrzunehmen, die sich bald zu der Gestalt eines alten, bärtigen Elfen verfestigten. Sie beobachtete ihn. Das von tiefen Falten zerfurchte Gesicht. Die steile Falte, die sich hin und wieder auf seiner Stirn bildete, wenn er nachdachte und dabei auf der weißen Feder kaute. Und die unzähligen kleinen Falten um seine warmen, grauen Augen herum, wenn er etwas las oder etwas aufschrieb, das ihn amüsierte. Younani beschloß in dem Moment, daß sie diesen alten Mann gerne hatte.

Matthai - so hatte ihn die andere Stimme genannt. Etwas in seinen Augen und in der Art wie er schrieb, überzeugte sie davon, daß er ein guter Elf sein mußte. Nicht, daß sie schon viele Elfen - ganz zu schweigen von irgendwelche anderen Wesen - gesehen hätte. Und trotzdem, immer wenn dieses leise Lächeln seinen Mund umspielte und seine Augen funkelten, konnte Younani nicht anders und lächelte zurück.

Nach einiger Zeit, in der Younani zufrieden den alten Mann beobachtet oder mit geschlossenen Augen den Worten, die er niederschrieb, gelauscht hatte legte Matthai auf einmal seine Feder beiseite. Younani merkte auf. Die Stille, die sie plötzlich umgab war kalt und unangenehm. Warum hatte der alte Mann aufgehört zu schreiben ? Sie hoffte inständig, daß dieser Zustand nicht allzulange anhielt, denn der stetige Fluß der leisen Worte, die aus seiner Feder gekommen waren, hatte etwas ungemein beruhigendes; und sie wußte auch genau, daß das Buch ... sein Buch ... und, was ihr plötzlich klar wurde, IHR Buch, noch lange nicht fertig war.

"Ahhh," Matthai reckte sich und seine steifen, alten Knochen knackten laut. "Ich glaube, eine Pause wäre jetzt vielleicht gar nicht mal so schlecht," murmelte er. Er betrachtete den Teller, den Jory bereits einige Stunden zuvor auf das Pult gestellt hatte. "Ich glaube, ich sollte den Jungen nicht immer so ärgern," stellte er mit einem breiten Grinsen fest, "eigentlich ist er doch gar nicht mal so übel. Und was für leckere Sachen er mir dagelassen hat...mmmh." Damit nahm er sich ein kleines Messer, das auf dem Teller lag, schnitt eine Scheibe Brot und ein Stück Käse ab und biß genußvoll zunächst in das Eine, dann das Andere hinein. "Oh, mmmh, gut" murmelte er mit vollem Mund. Er tat das Brot zurück auf den Teller, griff einige Trauben, legte den Kopf in den Nacken und ließ zwei der Früchte in seinen Mund fallen. Die Früchte schmeckten köstlich und Matthai leckte sich genüßlich die Lippen. Mit einer Hand leicht seinen Nacken massierend, lehnte er sich in dem Stuhl zurück und schloß die Augen. Hin und wieder steckte er eine der Trauben in seinen Mund und lächelte zufrieden.

Younani hatte das alles mit regem Interesse verfolgt. Sie hatte zwar eine ungefähre Vorstellung davon, was Matthai gerade getan hatte - daß Elfen, Menschen und viele andere Wesen gewöhnlich irgendeine Form von Nahrung zu sich nahmen, stand irgendwo in ihrem Buch - aber, daß es sich bei diesem Vorgang um etwas augenscheinlich so Angenehmes handeln könne, hätte sie sich nicht träumen lassen.

"Hmm," überlegte Younani. " Das sieht wirklich gut aus. Vielleicht sollte ich das auch einmal ausprobieren." Ohne lange nachzudenken, streckte sie eine Hand nach dem Teller mit den Trauben aus. Verdammt, zu kurz. Um an den Teller heranzukommen würde sie wohl hingehen müssen. Gedacht - getan. Sie stand also auf und ging dann zielstrebig auf die Früchte zu.

Sie griff nach den Trauben und mußte, etwas enttäuscht, feststellen, daß leider nicht mehr als zwei oder drei Trauben auf einmal in ihre Hand passen wollten. "Andererseits," so dachte sie sich, "ich muß ja überhaupt auch erst einmal ausprobieren, ob das wirklich so gut schmeckt." Kurzentschlossen nahm sie also eine Frucht, untersuchte sie neugierig, indem sie sie ein wenig zwischen Daumen und Zeigefinger zusammendrückte, roch daran und schob sie dann vorsichtig in ihren Mund. Ihre Zähne zerteilten die Traube genau in der Mitte. Hmm, das war gut ! Als der süße Traubensaft ihre Zunge berührte verdrehte sie vor Entzücken die Augen und begann gleich darauf mit großem Enthusiasmus zu kauen. Nachdem die erste Traube vollständig verschlungen war, verschwanden mit rasanter Geschwindigkeit eine zweite, und dann eine dritte. "Mmmh ... gut." sagte Younani, ohne sich wirklich darüber bewußt zu werden, daß sie gerade zum ersten Mal in ihrem Leben gesprochen hatte.

Matthai öffnete erschrocken seine Augen. Hatte er nicht gerade etwas gehört ? Aber nein, das konnte ja gar nicht sein. Jory war schon vor Stunden nach Hause gegangen. Vielleicht war draußen jemand vorbeigegangen. Andererseits, um diese Stunde ? Vorsichtig schaute er nach rechts und links. Nichts. Dann fiel sein Blick auf seinen Teller, wo sich seltsamerweise etwas bewegte, obwohl sich, seiner Meinung nach, weder Brot, noch Früchte bewegen sollten.

"AHHH !" rief Matthai erschrocken aus und für einen kurzen Moment sah es so aus, als wäre er beinahe vom Stuhl gefallen.

"AHHH !" rief auch Younani, nicht minder erschrocken und plumpste mit ihrem Hinterteil auf den Rand des Tellers. Das hatte zur Folge, daß das Brot und die Trauben jetzt geradewegs auf Matthai zuflogen. Jedoch noch bevor sie ihn erreichen konnten, griff die Schwerkraft ein und Brot, Käse und Trauben verteilen sich in einem hübschen Muster quer über den ganzen Tisch hinweg.

Younani saß stocksteif auf dem Pult und starrte Matthai mit offenem Mund an. Matthai starrte zurück. Seine Augen meldeten seinem Gehirn, daß da vor ihm, auf seinem Pult, neben seinem Teller, eine etwa zwei Handspannen große Gestalt, in einer grünen Pluderhose, einem bauschigen, dunkelblauen Hemd und einer heller Weste, saß und sich krampfhaft an einer Traube festhielt. Nach einer kleinen Weile, in der sich sein Verstand auf die neue Situation einstellte, kam ihm eine Idee und er schmunzelte.
"Hallo," sagte er leise.
Younani lächelte vorsichtig zurück. "Hallo ?" erwiederte sie zögernd.
"Wer bist denn Du ?" fragte Matthai.
"Younani," sagte Younani.
"Aha. Ich heiße Matthai."
"Ähm ... ähm ... hallo. " stotterte Younani, unsicher was sie tun oder sagen sollte.
"Und wo kommst Du so plötzlich her, Younani?" fragte Matthai.
"Ähm ...," setzte Younani an, mußte dann aber feststellen, daß sie damit im Moment etwas überfragt war. Sie legte ihre Stirn in Falten und dachte angestrengt nach. Dabei schaute sich suchend um und deutete dann schließlich in Richtung des Buches, in dem Matthai schon den ganzen Abend geschrieben hatte. "Uhm, von da - glaube ich." vermutete sie.
Ein breites Lächeln erleuchtete jetzt das Gesicht des alten Mannes.
"Dann bist du also ein Bücherkobold, richtig?"
Younani überlegte kurz. Bücherkobold? Hm, das hörte sich richtig an. Je länger sie darüber nachdachte, desto sicherer wurde sie sich. Schließlich sagte sie mit entschlossenen Stimme und einem fröhlichen Grinsen.
"Ja, genau ... Ich bin ein Bücherkobold ... Younani, der Bücherkobold." "Na dann, Younani, Bücherkobold," sagte Matthai im höchsten Maße erfreut und streckte der kleinen Gestalt seine Hand entgegen. "Willkommen in Titania!" Younani strahlte den alten Mann an, ergriff seinen Zeige- und den mittleren Finger und schüttelte diese mit aufrichtiger Begeisterung.

Younani
2000