|
Eine Handvoll Zeit Herbst war's geworden. Die alte Frau lehnte sich an die sonnengewärmte weiße Mauer und betrachete zufrieden ihren kleinen Garten. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, aber nun war alles getan. Sie lächelte die fein säuberlich gestutzen Beerensträucher an und der Stachelbeerstrauch winkte zurück. "In Eschingen haben sie immer gesagt, die alte Amelie ist verrückt. Sie behauptet, dass ihr Grünzeug antwortet! Aber meine Marmeladen und Kräuter und Blumen haben sie trotzdem haben wollen", murmelte sie leise. "Jetzt, wenn ich sage, die Stachelbeere freut sich über ihren Schnitt, dann nicken alle nur, und glauben, ich spreche von den Geistern... Als ob Pflanzen keine Seele hätten, gleich ob sie in der Alten Welt oder hier in der Yddia wachsen!" Sie schüttelte den Kopf über soviel menschlichen Unverstand. Ächzend erhob sie sich von der schön geschnitzten Holzbank und ging in die Stube. Die geernteten Kräuter mussten noch gebündelt werden und bald würde Severin kommen, um sie zu holen. Wenig später wirbelte ein leichter Windstoß die getrockneten Salbeiblätter durcheinander. "Carali? Bist du das?" Federleicht ließ sich der Windkobold auf Amelies Schulter nieder und zwitscherte aufgeregt: "Severian kommt!" Carali war noch sehr jung, erst vor wenigen Monden war sie in der Nähe von Amelies Garten entstanden. Vielleicht war es ihr deswegen nicht schwergefallen, Freundschaft mit der alten Menschenfrau zu schließen. Für Carali waren die Menschen einfach ein Teil ihrer Heimat und Amelie mit ihrem freundlichen Lachen und ihren langen weißen Haaren, die sich so gut zausen ließen, hatte das kleine Wesen von Anfang an gemocht. Es dauerte auch nicht mehr lange, da klopfte Severian tatsächlich an die Türe. "Hallo Grossmutter!" Fest umarmte er Amelie und gab ihr einen Kuss auf die Stirne. Dann schob er sie von sich und betrachtete sie eingehend. "Wie geht es dir?" "Ganz gut, mein Lieber, so wie es mein Alter erwarten läßt. Hier und dort zwickt es und zwackt es, aber das ist nun einmal so und kein Grund zur Besorgnis. Das einzige, was mir wirklich fehlt, ist deine Gesellschaft. Also setz dein Heilergesicht wieder ab und sei einfach mein Enkel!" Gehorsam ließ sich Severian auf der Ofenbank nieder und griff nach den Plätzchen mit Stachelbeermarmelade. "Ich würde dich ja gerne öfter besuchen kommen, die zwei Stunden Weg von Neu-Descaer nach Süßquell machen keine Mühe, aber ich habe sehr wenig Zeit. Wir arbeiten gerade daran, eine neue Heilerschule aufzubauen und da gibt es noch mehr zu tun als sonst." "Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, mein Junge, ich weiß, dass du deine Berufung sehr ernst nimmst. Und das ist auch gut so. Wirklich. Mir fehlt es hier an nichts. In Süßquell leben viele Menschen, die ich schon mein Leben lang kenne, ich habe meinen Garten und auch Carali zur Gesellschaft, die mir erzählt, was der Wind erzählt und was sich im Land so tut." "Und du möchtest wirklich nicht zu mir nach Neu-Descaer ziehen? Ich habe ein großes leeres Haus und einen Garten könnten wir auch für dich anlegen ..." Energisch schüttelte Amelie den Kopf. "Nein, Severian, wir haben schon darüber gesprochen und ich habe meine Meinung nicht geändert. So wie ich nicht aus Eschingen nach Descaer gezogen wäre, so werde ich auch Süßquell nicht verlassen. Neu-Descaer ist eine Stadt, so wie Descaer eine war, und dort habe ich nichts zu suchen. All die vielen Menschen und das Getriebe! Und außerdem, mein Kind, ein zweites Mal könnte ich nicht an einem neuen Ort wieder heimisch werden und Wurzeln in den Boden senken. Dazu bin ich zu alt und es war schon das erste Mal nicht wirklich leicht. Hier ist meine Heimat, hier will ich bleiben, bis meine Zeit gekommen ist. - Jetzt wollen wir aber über die Kräuterbündel sprechen, die ich für dich vorbereitet habe, und du musst mir sagen, welche du für die nächste Lieferung brauchen wirst. In diesem gesegneten Land gibt es viele Pflanzen, die ich auch über den Winter ziehen kann." Kurz vor Sonnenuntergang verabschiedete Severian sich und machte sich auf den Heimweg. Er war viel länger geblieben, als er eigentlich gewollt hatte, aber dieses Mal war es ihm besonders wichtig erschienen, Amelie mehr Zeit zu schenken. Sie hatten über seine Eltern gesprochen, die schon lange tot waren, und über seine Tante, die mit ihrem Hausweihpartner nach Altheim in die Goldrittermark gegangen war. Amelie hatte ihm auch den neuesten Klatsch und Tratsch aus Süßquell erzählt, wer gerade in wen verliebt oder mit wem entzwei war. Es war wichtig, solche Kleinigkeiten zu wissen, jeder von den Süßquellern konnte einmal sein Patient sein. "Wenn sie doch nur mit mir nach Neu-Descaer kommen würde! Sie ist wirklich nicht mehr jung und sie arbeitet immer noch zu viel. Aber ich habe es versucht ... wieder einmal ohne Erfolg." Er wandte sich noch ein letztes Mal um und winkte zum Abschied, auch wenn er die kleine Gestalt am Gartentor kaum noch zu erkennen vermochte. Amelie sah ihm lange nach, selbst als Pferd und Reiter schon in der Ferne verschwunden waren, stand sie noch da. Am nächsten Morgen blieb die Türe des Hauses auch noch fest verschlossen, als die Sonne längst aufgegangen war. Kein Rauch stieg aus dem Schornstein auf. Carali wunderte sich sehr. Das war noch nie vorgekommen, seit sie Amelie kannte. Sie sprang auf das Fensterbrett, aber in der Stube war es dunkel. Carali lief zu dem Stachelbeerstrauch, mit dem Amelie immer sprach. "Weißt du, wo sie ist?" fragte sie. Der Strauch regte sich nicht. Die Ringelblumen blühten schön wie eh und je, aber ihre Blätter hingen irgendwie traurig herab. Jetzt machte sich Carali wirklich Sorgen. "Vielleicht ist Amelie krank. Ich muss da hinein!" rief sie, sprang auf das Dach und glitt durch den Schornstein. In einer Wolke von Asche und Russ landete sie in der Feuerstelle. Geschwind schüttelte sie sich, um die Asche loszuwerden, und verteilte sie nur noch mehr durch den Raum. "Amelie wird schimpfen, wenn sie aufwacht!" Aber Amelie schimpfte nicht. Die alte Frau lag auf ihrem Bett und regte sich nicht und ließ sich nicht wecken. "Ich muss Hilfe holen - sie ist wirklich krank." Menschen wurden krank, das hatte Amelie Carali erklärt. Deswegen war ja Severian so wichtig, er war ein Heiler und sorgte dafür, dass kranke Menschen wieder gesund wurden. Carali hatte sich das nicht wirklich vorstellen können, aber Menschen mussten ja auch essen, trinken und schlafen. Und ihre Zähne putzen und Gewand nähen, tragen und waschen. Und viele, viele andere Dinge mehr tun. Severian - das war die Lösung! Sie musste nach Neu-Descaer eilen und ihn holen. Er würde wissen, was zu tun war. Severian sprang von seinem Pferd, noch bevor es wirklich zum Stehen gekommen war, und rannte den Gartenweg hinauf. "Großmutter! Großmutter!" Er klopfte heftig an die Türe. Nichts rührte sich. "Carali, bitte, geh noch einmal hinein, heb den Riegel hoch und öffne die Türe!" Carali nickte nur. Die Angst in Severians Stimme schnürte auch ihr die Kehle zu. Ein leises Ächzen war zu hören und schon ging die Türe auf. Severian stürzte in die Stube. "Großmutter?" Vor dem Bett fiel er auf die Knie und nahm ihre Hand. Sie war eiskalt. Amelies Augen waren geschlossen und ein friedliches Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Sie war tot. Grenzenloser Kummer erfasste den jungen Heiler. Es gab nichts mehr, was er noch hätte tun können. Carali hielt es nicht mehr aus. Severian weinte so bitterlich, wie sie das noch nie erlebt hatte in ihrem kurzen Sein. "Kannst du sie allein nicht gesund machen?" fragte sie leise. "Soll ich noch Hilfe holen?" Severian schüttelte den Kopf. "Niemand kann ihr helfen, Carali, sie ist tot." "Tot? Aber wieso tot? Sie wollte doch noch gar nicht gehen! Das kann nicht sein! Wo ist ihre Seele?" Caralis verzweifelter Aufschrei durchdrang sogar Severians Schmerz. ""Carali? Was hast du denn?" "Aber ... aber ... sie hat doch gesagt, sie muss die Wintersaat vorbereiten, also wollte sie doch gar nicht gehen!" Severian verstand. "Kobolde gehen, wenn sie sich dafür entscheiden zu gehen, ist das so?" Carali nickte. "Nun, bei Menschen ist das anders. Wir wissen nicht, wann unsere Zeit kommt, wir werden alt und dann sterben wir. Und manches Mal geht das dann sehr schnell. Alter kann man nicht heilen, Carali, es ist keine Krankheit, es gehört zu uns Menschen. - Ihr Naturgeister seid wie die Natur selbst, endlos und immer da. Eure Zeit ist endlos. Wir Menschen sind wie Pflanzen, wir werden geboren, wachsen und vergehen wieder. Verglichen mit euch bleibt uns nur eine Handvoll Zeit, in der wir unser Leben leben. Deswegen sind wir oft laut, hektisch, ungeduldig und immer beschäftigt. Weil wir wissen, unsere Zeit ist begrenzt." "Und damit lebt ihr und könnt trotzdem lachen?" flüsterte Carali unter Tränen. "Ein kluger Mensch hat einmal gesagt: gerade deswegen lachen wir so viel! Ja, wir sind uns dessen bewusst, nicht immer, aber manches Mal doch. Wenn wir jung sind, erscheint uns das Leben endlos, in der Mitte unseres Lebens sind wir oft zu beschäftigt, um uns Gedanken zu machen, und wenn wir alt werden, dann machen wir unseren Frieden damit, wenn wir weise geworden sind, im Laufe unseres Lebens." "Aber wo ist ihre Seele, Severian, sag mir das! Ich bin doch ein Windkobold, ich hätte es doch bemerken müssen, als sie starb, ich hätte sie doch ... heimbringen müssen? Oder doch nicht?" Carali ließ den Kopf hängen. "Ach, Carali, ich weiß es nicht, aber ich glaube nicht, dass die Seelen der Menschen auch euch Windkobolden anvertraut sind. Ich glaube, wir finden unseren Weg nach Hause ganz allein - wo immer dieses Zuhause auch ist." "Aber ihr kommt doch auch wieder?" "Auch das weiß ich nicht, Carali, manche Menschen glauben, dass es so ist, aber wissen können wir das nicht." Severian seufzte tief und stand auf. Er trat hinaus in den Garten und Carali folgte ihm. Sie sah, dass er trotz seiner Tränen lächelte. "Sieh auf die Blumen, Carali, sie blühen so wunderschön, obwohl eigentlich Herbst ist. Ich glaube, meiner Grossmutter geht es gut." Diese Geschichte spielt im Herbst 41 ndF. © November/2004 Crysalgira Anna Marie Trieblnig gewidmet |