Naturgeist

Credo
Clan
Völker
Land
Kultur
Geschichten
Lyrik
Rezepte
Cons
Galerie
Links
Neuigkeiten
Kontakt
Impressum
Home
Der Aufbruch

Es war ein klarer, wolkenloser Morgen und die Harmonie, die ringsumher die Wälder Dewhani Estrivels durchdrang und alles und jeden in ihren Bann zog, erschien so selbstverständlich. Aber trotz allem hätte der aufmerksame Betrachter in den Augen der Anwesenden Unsicherheit, Zweifel und vor allem Aufregung lesen können. Heute also sollte es beginnen. Gnisseldrix, die immer wieder ihren Blick über die mit Tau benetzte Wiese gleiten ließ, zeigte tiefe Sorgenfalten auf ihrer Stirn. " Heute also wird es geschehen" so dachte sie.
"Die Zeit verfliegt und wir treiben in ihr, wie welke Blätter im Wind". Sie sah hinüber zu Keo, die ruhig abzuwarten schien. Aber der Waldkobold wußte, daß Keos scheinbare Gelassenheit nur eine dünne, zerbrechliche Fassade war. Ebenso verhielt es sich mit Vanyar, Chamiel, Ifgnit und all den anderen Naturgeistern, die sich auf dieser Lichtung, nahe Oberonia, versammelt hatten.

Dann endlich, nach einiger Zeit, erschien Finyen del Lian auf einem weißen Silarian reitend, am Versammlungsort. Man merkte, daß sich Finyen in ihrer neuen Rolle als Oberhaupt aller Naturgeister noch nicht sehr wohl fühlte. Auf der Lichtung verstummten derweil alle Unterhaltungen und alle blickten gespannt auf die Silberelfe, die nun ihrerseits den Blick über das Rund der Naturgeister schweifen ließ. Dann begann sie, mit einem Hauch von Unsicherheit zu sprechen:

"Das Volk der Waldelfen hat sich entschlossen, einige der Ihren in den Tieflandstreifen zu senden, auf daß sie sich dort niederlassen und neue Dörfer gründen. Ich bin ebenfalls der Meinung, daß sich die Naturgeister wieder mehr der wachen Welt zuwenden sollten. Der lange, grausame Winter hat vieles zerstört und unendliches Leid über die Völker Magiras gebracht. Einige, wenige, haben in ihrer Not den Weg zu uns gefunden. Man hat sich wieder an uns erinnert. Diese Gelegenheit sollten wir nicht ungenutzt verstreichen lassen."

Mit zunehmender Länge ihrer Rede waren ihre Worte immer fester geworden un nun, da sie ihre Entscheidung zu Gehör brachte, erschien ihre Stimme fest und leidenschaftlich.

"So laßt uns erneut Liebe und Verständnis zu den Sterblichen bringen. Aber wir müssen vorsichtig sein und mit Bedacht vorgehen, um diesen hoffnungsvollen Neuanfang nicht durch blinden Eifer zu zerstören. Die Stadt Titania wurde allen Sterblichen zugänglich gemacht. Sie soll ein Ort des Handels und der Begegnung werden, wo die Menschen lernen können, friedlich und verständnisvoll miteinander umzugehen. Die Besiedelung des Tieflandstreifens geht damit einher. Wir werden versuchen, nach und nach die entferntesten Winkel Magiras zu erreichen, um dort die Natur zu schützen und zu bewahren, wie es unsere Aufgabe ist."

Finyens Rede war zum Ende hin immer leidenschaftlicher geworden und der Funke der Begeisterung schlug auf die Versammelten über. Wohl erkannte sie in den Augen auch Angst und Zweifel, aber Vorfreude und Eifer gewannen mehr und mehr die Oberhand.

"Nun denn, meine Freunde, es ist an der Zeit". Die Silberelfe nickte Vanyar, Keo und Gnisseldrix kurz aufmunternd zu, worauf diese, wie viele andere Naturgeister, begannen, das bevorstehende, große Ereignis vorzubereiten.

Während der nächsten Tage herrschte auf der Geisterinsel ein nie dagewesenes, fast schon hektisches Hin und Her. Waren wurden zu den Häfen gebracht, Schiffe beladen, kurzum, alle Naturgeister, die zu dieser Zeit die Straßen Oberonias bevölkerten, waren eifrig dabei, zum Gelingen des Ganzen beizutragen.

Und als eines Morgens die stolzen, anmutigen Langschiffe der Naturgeister vor Titania aus dem Nebel tauchten, verfolgten viele Sterbliche das seltene Schauspiel. Immer mehr versammelten sich am Hafen und alle erfaßte ein nicht greifbares, seltsames Glücksgefühl. Und obwohl keiner wußte, was dort vor sich ging, begriffen alle, daß ein großes, wichtiges Ereignis bevorstand. Die Schiffe aber glitten lautlos an Titania vorbei und verschwanden ebenso schnell, wie sie gekommen waren im dichten Nebel des Binnenmeeres.

Sofort entstanden zahlreiche Gerüchte doch kaum einer war weise genug, um zu erkennen, daß vielleicht ein neues Zeitalter angebrochen war.

Die Langschiffe jedoch segelten weiter an der Küste des Tieflandstreifens entlang. Erst als sie Titania lange hinter sich gelassen hatten, landeten sie an den Ufern des Binnenmeeres.

***

"Was für eine Hitze", Vanyar stöhnte während er über die weite, baumlose Savanne blickte. Ihm standen, ebenso wie Keo, Chamiel und auch Finyen dicke Schweißperlen auf der geröteten Stirn. Lediglich Gnisseldrix, der Waldkobold, schien von der herrschenden Hitze eher unbeeindruckt zu sein. Die fünf Freunde hatten beschlossen, ihre Brüder und Schwestern im Tieflandstreifen zu besuchen. Seit deren Ankunft war nunmehr fast ein Jahr vergangen und zahlreiche Dörfer waren in der wilden, unberührten Weite des Tieflandstreifens entstanden. Neugierig aber waren sie alle vor allem auf die Steppenelfen, dem Volk unter den Elfen, mit dem man landläufig eher wenig Kontakt hatte. Dies lag vor allem daran, daß diese fast nie auf die Geisterinsel oder in eine der großen Städte kamen. Finyen hatte erzählt, sie würden den Stimmen der Natur lauschen und in den Wäldern und Städten war es für sie einfach zu laut. Zu viel verschiedenes Leben, all die Pflanzen, Tiere und Naturgeister, und alle hatten sie ihre Stimme. Dies war für die Steppenelfen zu laut, zu viel auf einmal. So mieden sie gewöhnlich die Orte, wo sich meist Naturgeister trafen.

Nichts desto trotz hatten sich die Steppenelfen während des vergangenen Jahres für die Neuankömmlinge unschätzbare Führer und Helfer erwiesen. Vieles mußte neu erlernt und längst Vergessenes wieder entdeckt werden. So war aus den beiden Elfenvölkern im Tieflandstreifen im Laufe des Jahres eine fast schon verschworene Gemeinschaft geworden.

Der Marsch war anstrengend und die allgegenwärtige Hitze tat ein Überiges, um alles und jeden in Lethargie fallen zu lassen. Vanyar hatte diese Eintönigkeit satt. Wohin man sich auch wandte, überall das gleiche Bild.
Ein nicht enden wollendes Gräsermeer, das sich im Wind wog und von Horizont zu Horizont ersteckte.

"Unsere Brüder und Schwestern der Steppenelfen werden auf Dewhani Estrivel von den Alten oft die Wächter des Reiches genannt". Der Schmied musterte Finyen neugierig. "Weißt du, warum sie so genannt werden?". Die Silberelfe schreckte auf. "Was? Die Steppenelfen?" Die Silberelfe war ihren Träumen nachgehangen und hatte die Frage des Waldelfen scheinbar nicht so recht verstanden. "Ja, Finyen, warum nennt man sie die Wächter des Reiches?" schmunzelte Vanyar.

Finyen dachte nun kurz nach, dann begann sie zu erzählen. "Die Steppenelfen kommen, obwohl sie es könnten fast nie nach Dewhani Estrivel. Sie fühlen sich in den weiten Steppen des Tieflandstreifens am wohlsten. So überdauerten sie auch die Zeit der Finsternis hier und trotzten allen Bösen. Sie erhielten unser Reich. Und nachdem die Finsternis uns verlassen hatte, waren sie immer noch hier. Sie beschützen die Steppen seit jeher und auch heute kann niemand unser Land betreten, ohne das die Steppenelfen es nicht binnen kürzester Zeit bemerken würden. Von all den kleinen Problemen an den Grenzen unseres Reiches dringt selten etwas bis nach Oberonia. Selbst ich weiß häufig nichts von alledem und das ist auch gut so. Du siehst Vanyar, sie tragen ihren Namen zurecht." Zum Ende hin hatte Finyens Stimme einen fast feierlichen Ton angenommen und es schien, als schwinge in den Worten eine große, kaum faßbare Dankbarkeit mit.

"Ich habe nie bezweifelt, daß sie diesen Namen zurecht tragen", Vanyar zeigte sich beeindruckt. Da platzte Keo dazwischen. "Wenn du uns jetzt noch sagen könntest, wann wir endlich ankommen, ich sehne mich nach dem Schatten der Bäume und einem Glas kühlem Wein".

Die Silberelfe versuchte, sich ein Grinsen zu verkneifen. "Ja, etwas Schatten könnte wirklich nicht schaden". Sie blickte zum Himmel und ließ anschließend den Blick über das Gräsermeer wandern, Schließlich deutete sie mit ihrer rechten Hand nach Norden. "Eine Stunde, schätze ich, wenn wir uns beeilen. Dort liegt das Dorf zu dem wir wollen."

Dies vermochte die Gruppe nach drei Tagen des Marsches neu zu motivieren. Das Tempo nahm beständig zu und nach einiger Zeit war am Horizont ihr Ziel zu erkennen. Ein Wald, die neue Heimat vieler alter und neuer Freunde. Etwas später tauchten sie ein in die kühlen Schatten der ersten Bäume und kurz darauf hatten sie das Waldelfendorf erreicht.

© 1999 Vanyar