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Crysalgira na'Halandra

Erwachen

"Heute ist ein guter Tag zum Kräutersammeln", sprach Severian, der Heiler, zu Anne von Wolkenstedt. "Könntet Ihr mir nicht ein paar Eurer Kinder leihen?" Das sonst so strenge Gesicht der Clantherin hellte sich auf. "Wusste ich doch, dass nicht nur die Höflichkeit oder die Sehnsucht nach meinem Tee Euch zu mir geführt hat!" Severian grinste schuldbewusst und hob beschwichtigend die Hände. "Niemand weiß so gut die Kräuter zu finden, die ich brauche, wie Eure Holdenkinder."
"Das ist wahr", erwiderte Anne. "Edeltraut und ihre kleine Schar sind wahrlich gesegnet durch die Freundschaft der Holden. Geht doch einfach in den Speiseraum und sagt ihr, was Ihr braucht. Ein paar Sonnenstrahlen und ein wenig Bewegung werden den Kindern guttun."

Wenig später war Edeltraut mit ihren Schutzbefohlenen durch den Hain hinter dem Hospital unterwegs zum Ufer des Blausilber. Die junge Frau hatte ihre Kindheit in dem Dorf Eschingen, nahe dem Herzen des Elfenwaldes von Descaer verbracht, und schon damals galt sie als "Sonntagskind", das die besondere Gunst der Holden genoss. Aber nicht einmal die Holden von Descaer und auch nicht die Heiler und ihre Kräuter hatten ihren heißgeliebten Hans retten können, in jenem furchtbaren Winter, den man den "Zorn des Weltenschöpfers" genannt hatte. Ihr eigenes Kind hatte sie zu Grabe tragen müssen, kaum sechs Monde, nachdem sein Vater in der Schlacht um Descaer gefallen war. Düster und leer war ihr Leben gewesen, wie in einem Traum hatte sie den Durchgang durch das "Tor der Macht" erlebt, der die Eschinger nach Dalan ido Lhur brachte, ins Land zwischen den Meeren im Reich der Naturgeister.
Doch das Leiden der Kranken und Verwundeten unter den geflohenen Descaerern, der namenlose Kummer der Waisenkinder, das verzweifelte Bemühen der wenigen wirklich Gesunden, die sich alle in einem fremden Land fern der Heimat zurechtfinden mussten, hatten sie aus ihrer Erstarrung gerissen. Seit jenen Tagen arbeite sie erst im Hospital und dann Seite an Seite mit Anne von Wolkenstedt im Waisenhaus von Neu-Descaer.
Für die meisten Kriegswaisen hatten sich Familien gefunden, welche die Kinder bei sich aufnahmen, und aus dem Waisenhaus war eine Schule geworden, aus der die Kinder nach dem Unterricht in ihre Häuser zurückkehrten. Aber einige der Schützlinge hatten Anne und Edeltraut nicht verlassen wollen, sie waren ihr Heim und ihre Familie geworden.
Edeltraut würde ihren Hans niemals vergessen, aber wenn sie abends die Kinder zu Bett brachte und ihnen Schlaflieder sang, dann war Frieden in ihrem Herzen.

"Was sollen wir denn suchen für Severian?" piepste Tobias neben ihr. "Wahrscheinlich Elfenblatt und Feenkraut und einen Dryadenbaum dazu!" scherzte Liese. Mit ihren dreizehn Jahren war sie die Älteste und kümmerte sich rührend um die Kleineren. Tobias funkelte sie böse an. Immer ärgerte ihn die große Schwester! Dabei war er doch schon sieben Jahre alt! "Da stellt man eine ernsthafte Frage ..." Edeltraut lachte hellauf. "Balsamwurzel, Wiesenschaumkraut und Frauenmantel brauchen wir", antwortete sie Tobias. "Die Winterregen sind nun endlich vorbei und die Pflänzchen voller Kraft."

Vor ihnen ragten die Trauerweiden auf, welche den Begräbnisplatz umgaben, und zwischen den Bäumen schimmerten die Wasser des Sees hindurch. Tobias, Lore und Georg begannen zu laufen. "Wir suchen auf der Sternblumenwiese!" riefen sie. Edeltraut und Liese folgten etwas langsamer, blieben einen Augenblick stehen, als sie am Hain der Toten angekommen waren. Liese ließ den Kopf hängen. Ihre Mutter war die erste Tote gewesen, die sie in ihrer neuen Heimat dem Feuer hatten übergeben müssen, ein paar Wochen nach ihrer Ankunft, und auch nach sieben Jahren vermisste das Mädchen sie manches Mal noch sehr. Mitleidig drückte Edeltraut das Kind an sich.

Plötzlich kam Tobias zurück, die Augen weit aufgerissen, ganz bleich im Gesicht. "Edeltraut, da ... da liegt jemand, auf der Wiese, eine ganz schwarze Gestalt, und ein paar Holde schweben darüber!" Liese nahm seine Hand. "Wenn die Holden da sind, ist es sicherlich nichts Böses!" sagte Edeltraut bestimmt. "Sie beschützen uns, das weißt du doch!" Tobias nickte zögernd.
Edeltraut erreichte die Wiese und verstand, was den Kleinen so erschreckt hatte. In dem Meer aus weißen Blüten war ein schwarzen Fleck. Als sie genau hinsah, erkannte sie einen dichtgewebten Umhang, der eine menschliche Gestalt verhüllte. Die Holden flogen auf sie zu, eine landete gar mit schwirrenden Flügelchen auf Edeltrauts Schulter und ein Chor von Stimmchen zirpte ihr ins Ohr. "Du helfen!"
Die junge Frau ging die paar Schritte, bückte sich und hob den Umhang hoch. Da lag eine Frau wie in tiefem Schlaf. Langes dunkles Haar verbarg ihr Gesicht. Sanft schob Edeltraut die Haare beiseite. Das war doch nicht möglich! Sie fiel auf die Knie. Sie hatte dieses Gesicht oft gesehen in Eschingen, auch am Tag ihrer Hausweih war die Frau Gast ihres Vaters gewesen, hatte ihr Glück und Segen gewunschen. "Bei allen guten Geistern!" rief sie, als sie die Sprache wiedergefunden hatte. "Tobias, lauf so schnell du kannst und hole Herrn Severian und Frau Anne! Beeile dich!" Tobias rannte davon.
"Wer ist das?" fragte Liese, die unterdessen herangekommen war. "Kennst du sie denn?" "Das ist die Frau, welche uns ins Reich der Naturgeister in Sicherheit gebracht hat, das ist die Frau Gräfin, Crysalgira von Descaer."



Licht ... Strahlendes helles Licht, so grell, dass es schmerzt. Geräusche, Stimmen, Menschen, die mit einander sprechen ... ein Gesicht vor meinen Augen, ein Wort, das sich immer wieder wiederholt. "Crysalgira! Crysalgira!" Müde ... so müde ... gnädige Dunkelheit.



"Sie hat mich angesehen, ich weiß es!" Mirana weinte vor Enttäuschung. Sigismund nahm sie in die Arme. "Liebste, beruhige dich doch. Das hast du nun schon so oft geglaubt in den letzten Tagen." Seine Blicke trafen sich mit denen Annes und Severians. Severian schüttelte leicht den Kopf. "Ich kann keine Veränderung in ihrem Zustand erkennen", sagte er leise. Anne seufzte tief. "Glaubt mir, Mirana, auch ich wünsche mir nichts sehnlicher, als dass Crysalgira erwacht und uns erkennt. Ihr standet ihr sehr nahe, Ihr wart ihr Schützling im Tempel, ich weiß es wohl. Das schafft Bindungen ... Doch auch ich war ihre Vertraute, habe viele Stunden mit ihr zugebracht, über den Rechnungsbüchern. Und ich sage Euch, so sehr es mich auch schmerzt, sie erkennt uns nicht." Severian erhob sich vom Rand des Krankenbettes. "Wo immer ihre Seele auch weilt, sie ist weit, weit fort von uns. Ich vermag sie nicht zurückzuholen, wir können nur hoffen, dass die Zeit etwas bewirken kann." Mit einem langen traurigen Blick auf die regungslose Gestalt zwischen den blütenweißen Bettlaken verließ er das Zimmer.
"Komm, Mirana, wir müssen nach Hause. Chrysalia wartet auf uns. Anne wird uns sofort holen lassen, wenn irgendeine Veränderung eintritt, nicht wahr?" Anne von Wolkenstedt nickte und Sigismund führte die erschöpfte Mirana fort.
"Du solltest dir auch ein wenig Ruhe gönnen, Anne." Leise war Edeltraut hereingekommen. "Sieh mal, die Holden sitzen immer noch am Fenstersims, die Gräfin wird so gut bewacht, wie es nur möglich ist. Ich glaube, Severian hat Recht. Ihr Körper ist zwar bei uns, aber ihr Herz nicht. Noch nicht. Mir ist es ähnlich ergangen, damals vor sieben Jahren, als ich dachte, meine Welt sei für immer zerstört. Wer weiß, was ihr noch alles geschehen ist, seit wir Descaer verlassen haben." Anne nickte. "Das sage ich mir selbst auch immer wieder. Nie, in all den Jahren, haben wir auch nur die kleinste Nachricht über ihr Schicksal erhalten, wen auch immer unter den vielen Reisenden in Titania unsere Mittelsmänner befragt haben. Ich sage dir, in den letzten beiden Jahren habe ich gedacht, sie lebt gar nicht mehr. Ich habe nicht an Miranas seltsamen Traum im vorletzten Winter geglaubt, als sie von der düsteren Gestalt sprach, die Crysalgiras Seele mit sich genommen hat, ich dachte, Mirana hätte einfach ihren Tod gespürt, aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Wer weiß, welche Macht sie in ihrer Gewalt hatte oder immer noch hat." Langsam stand sie auf. "Ich gehe auf mein Zimmer, vielleicht kann ich ein paar Stunden schlafen. Aber versprich mir, dass du mich vor Sonnenuntergang holen läßt! Da ist sie immer besonders unruhig...."
Edeltraut ließ sich auf Annes Platz nieder. Und wie sie es schon beinahe gewohnt war, flogen die Holden von ihrem Platz am Fenster auf und landeten am Kopfteil des Bettes. Unverwandt blickten sie mit ihren Juwelenaugen auf die schlafende Gestalt. "Ihr wisst wohl auch nicht genau, was geschehen ist!" murmelte die junge Frau leise. "Sonst hättet ihr es mir bestimmt schon gesagt...."

Kurz vor Sonnenuntergang erhob sie sich, ging vor die Türe und rief leise nach den Kindern. Lore kam aus der Küche angetrabt, mit einem Krug frischen Tees und ein paar Bechern. Edeltraut nahm ihr das Tablett ab und schickte sie zu Anne. Sie wandte sich um und trat in das Zimmer zurück. Die letzten Sonnenstrahlen fielen genau auf das Gesicht der Schläferin. Und in diesem Moment setzte sie sich auf.
Edeltraut ließ alles fallen. Mit lautem Klirren zerbrach das Geschirr. "Frau Crysalgira! Gräfin? Ich bin's, Edeltraut aus Eschingen. Frau Crysalgira?"
Anne stürzte herein. "Crysalgira! Ihr seid wach! Wie geht es Euch?"
Keine Antwort.



Crysalgira. Ist das ein Name? Wer ist das? Bin ich das? Wer oder was ist ich? Ich .... bin. Wer? Was? Ein ... Mensch. Eine Frau. Ja. Die beiden da ... auch Menschen, Frauen. Eine ist ... alt, ja "alt" heißt das Wort. Die andere ist jung, jünger. Jünger als ich. Älter als ich. Woher weiß ich das?
Wer steht da in der Tür? Ein ... Kind, ein Mädchen. Warum macht sie so große Augen?
Die ältere Frau spricht mit dem Kind. "Lore, schnell, geh zu Severian und sag ihm, er soll kommen. Dann läufst du zu Frau Mirana. Sag ihr, die Gräfin ist wach." Die Frau zittert. Warum?
"Anne, bitte, sieh sie dir doch an!" Die jüngere schüttelte die ältere Frau ganz sanft. "Sie weiß nicht, wo sie ist, ich bin nicht einmal sicher, ob sie uns hört.!"
"Ich ... ich höre euch." Die Stimme klingt wie rostiges Eisen, die Worte kommen langsam und stockend. Ich muss mich daran erinnern, dass ich sprechen kann. Muss Worte suchen. Laute, Bedeutungen, Fragen. Fragen? "Wer ist Crysalgira? Bin ich das? Ist das mein Name?"
Die ältere Frau - Anne, ja, Anne - bricht in Tränen aus, die jüngere sieht mich traurig an. "Ja!" sagt sie leise. "Erinnert Ihr Euch nicht, wer Ihr seid?"
Ein Mann kommt herein. Grüner Umhang, ein grüner Umhang! Das kenne ich. Das ist ... das ist ... "Ihr seid ein ... Heiler?" frage ich ihn. Er lächelt mich an, irgendwie freudig, erleichtert. "Ja, das stimmt. Mein Name ist Severian. Ihr werdet Euch nicht an mich erinnern, aber ich bin ein Schüler Tardirions gewesen."
Tardirion. Noch so ein Name. Ein Name, der mich traurig macht. Ein Bild dazu. Ein Wald, eine Tragbahre, darauf eine blasse, oh so blasse Gestalt. Mein Bruder. Nicht im Fleisch, aber im Geist. "Ist er tot?" frage ich Severian und fühle, wie mir die Tränen kommen. Sein Lächeln erlischt. "Ich weiß es nicht, Frau Crysalgira. Als wir Descaer verließen, da war er zu krank, um mit uns zu kommen."
Descaer? Descaer?! Ich schlage die Hände vors Gesicht. Daran mag ich nicht denken, nicht an Descaer. Krieg. Kampf. Tote, so viele Tote. Tod und Verderben ... Ich habe gekämpft und getötet ... Geht weg, ihr Bilder! Verschwindet aus meinem Kopf! Irgendjemand schreit laut. Bin ich das!?
Severian hält eine kleine Flasche an meine Lippen. "Bitte, trinkt das, ich bitte Euch!" Die Flüssigkeit schmeckt leicht bitter. Dann wird es wieder dunkel um mich ...



"Was hab Ihr da gemacht, Severian?" rief Mirana, fassungslos. Außer Atem eilte sie zu dem Bett. "Sie schläft ja wieder!" "Glaubt mir, Frau Mirana, es ist besser so. Habt Ihr sie nicht schreien hören? Wie ein Mensch in Todesnot! Ihre Augen, so voller Qualen. Soll sie erwachen, soll sie zu sich finden, nur um dem Wahnsinn zu verfallen? Wir wissen nicht, was mit ihr geschehen ist, wir wissen nicht, woran sie sich erinnert!
Vielleicht - vielleicht sind die Bilder in ihrem Kopf zu schrecklich. Sie hat sich an meinen Meister Tardirion erinnert, sie hat gefragt, ob er tot ist. Sie hat sich auch an Descaer erinnert, aber was immer sie da sah, wollte sie nicht sehen. In ein paar Stunden läßt die Wirkung des Schlaftrunkes nach. Wenn sie das nächste Mal erwacht, ist sie vielleicht ein wenig ruhiger. Wir müssen sehr, sehr vorsichtig sein mit dem, was wir sagen. Ihr Geist ist dem Zerbrechen nahe."
Mutlos schüttelte er den Kopf. "Ich glaube nicht, dass ich dem hier gewachsen bin. Wir sollten mit ihr nach Titania gehen und um Hilfe bitten. Die Elfen sind weise ..."



Beinahe mühelos hebt Severian mich hoch. "Seid ganz ruhig!" sagt er. "Ich trage Euch nur zum Wagen, wir machen eine kleine Reise." "Kann ich nicht selbst gehen?" frage ich. "Lieber nicht!" lächelte er. "Ihr wart lange krank und seid noch ein wenig schwach." Ich sehe Edeltraut an und sie nickt beruhigend. Sie hält eine kleine Tasche in der Hand. "Ich werde Euch begleiten."
"Wohin fahren wir?" "Nach Titania." "Dort war ich noch nicht, oder?" "Nein, soweit ich weiß nicht." Das ist gut. Sehr gut. An einem Ort, wo ich noch nicht gewesen bin, kann mir auch nichts begegnen, das ich nicht sehen will. Severian schnalzt mit der Zunge und das Pferd trabt los.
"Gute Reise und kommt bald wieder!" Die Kinder! Langsam wende ich mich um und winke ihnen zu. Anne steht bei ihnen. Warum weint sie nur?
Schier endlos dehnt sich das Land um uns. Grün, saftig grün, und friedlich. Alles voller Leben. Große Gestalten am Horizont. "Was ist das?" "Das sind Kaninchenbüffel", antwortet Edeltraut. Ich muss kichern. "Wirklich?" "Ja, sie heißen wirklich so." "Und haben sie auch lange Ohren?" Severian lacht schallend. "Wartet, bis wir sie einmal aus der Nähe sehen!"
Nach Sonnenuntergang halten wir an. Severian breitet ein paar Decken auf den Boden, Edeltraut facht das Feuer in der Kohlenpfanne an. "Möchtet Ihr Tee und ein wenig Brot?" fragt sie mich. Ich nicke begeistert. Ich habe Hunger.
Severian wickelt das Proviantbündel auf. Äpfel, süße Beeren, Eier, Butter, Käse, Fleisch ... Ich esse alles, was Edeltraut mir reicht, nur das Fleisch ... das mag ich nicht. Tote Tiere, sie sterben unter meinen Pfeilen ... nein ... nein! Ruhig, ganz ruhig! Severian sieht meinen Blick und packt die Fleischstreifen schnell weg. Er ist ein guter Heiler. Er gibt gut auf mich acht.
Ruhig lasse ich mich zurücksinken auf meine Decke. Das Gras ist so weich und duftet. Oben am Himmel leuchten die Sterne in aller Pracht. Ich kenne sie nicht und kenne sie doch. Ich habe diese Sternbilder schon einmal gesehen, vor langer, langer Zeit. Ein wenig anders, in einem anderen Land, an einem See .... dem Goldenen See, neben mir meine geliebte Adsahartha ... meine Freundin. Mit dem Gedanken an ihr langes blondes Haar, das der Wind zerzaust, schlafe ich ein.

Früh am nächsten Morgen sind wir schon wieder unterwegs. Auf der Straße ist heute etwas los, ein paar Menschen und einige andere Wesen sind unterwegs. Elfen! Das sind Elfen! Die Ohren, die großen leuchtenden Augen, ihre wunderbaren Gestalten, die sich in seltener Harmonie durch das hohe Gras bewegen. Viele lächeln uns zu, einige grüßen Severian freundlich. Da! Was sitzt da mit einem Mal auf meinem Knie? Ist das eine Holde? Ja und auch wieder nein. Ich kann nicht sagen, wo der Unterschied genau liegt - sind die Flügel bunter, schillernder? "Sieh nur, Severian, wir haben Begleitung!" Edeltraut deutet auf das kleine Wesen in meinem Schoß. "Eine Blumenfee!"
Voll Staunen betrachte ich das Wesen. Es lächelt mich an. "Ich Syaris!" glaube ich zu hören. "Wer du?" Mir kommen die Tränen. Wer? Ja, wer bin ich? Das kleine Wesen ist so freundlich, so liebevoll und ich ... ich kann ihm nicht einmal seine Frage beantworten. "Oh! Oh! Nicht weinen, bitte nicht weinen! Falsche Frage?"
Edeltraut kommt mir zu Hilfe. "Unsere Freundin ist krank, Syaris, es geht ihr nicht gut. Du verstehst? Wir bringen sie nach Titania, dort kann man ihr bestimmt helfen!" Syaris nickt eifrig. Sie fliegt hoch und fängt meine Tränen mit ihren winzigen Händen auf. "Bald du nicht mehr krank, du nicht mehr weinen. Ich bin ganz sicher!" Syaris strahlt mich an und dieses Leuchten dringt tief in mein Herz. Unter Tränen lächle ich zurück. "Ich bei dir bleiben bis Titania!" Spricht's und landet auf meiner Schulter.
Severian deutet nach vorne. "Seht Ihr? Dieses weiße Leuchten? Das sind die Mauern von Titania, sie sind weithin sichtbar. Bald haben wir es geschafft." Doch wir sind noch eine ganze Weile unterwegs. Diese Mauern müssen sehr, sehr hoch sein.
Schließlich endet die Straße vor zwei gewaltigen Bäumen. Sie scheinen das Tor in die Stadt zu behüten. Syaris fliegt auf und in ihr Geäst. Severian, Edeltraut und ich steigen ab und Severian nimmt das Pferd am Zügel. Warum sehen sich die beiden so seltsam an? Irgendetwas stimmt sie besorgt. Ich höre Syaris leise rufen: "Komm! Komm!" So gehe ich auf die beiden Bäume zu. Ein Ast senkt sich auf meine Schulter herab, dann ein zweiter. Die Bäume raunen mir etwas zu, beinahe kann ich ihre Worte verstehen. Mit einem Mal ist mir so leicht zu Mute, als wäre ein dunkler Schatten von mir gefallen. Vor mir teilen sich die dichtbelaubten Äste. Ich wende mich zu meinen Begleitern. "Ich glaube, wir dürfen eintreten!" Severian lächelt und Edeltraut nickt erleichtert.
Hinter den Türmen erstreckt sich eine weite Wiese. Severian spannt das Pferd ab und schiebt den Wagen beiseite. Ein hochgewachsener Elf kommt heran. "Geht nur, geht! Ich kümmere mich um euer Tier, während ihr für eure Freundin Heilung sucht." Ah, Syaris hat wohl mit ihm gesprochen. "Geht zum Marktplatz, dort findet ihr bestimmt jemanden, der euch helfen kann." Severian bedankt sich und wir gehen los.
Dies ist eine Stadt?? Nun, die Mauer ist da, aber wo sind die Häuser? Viele Schritte lang wandern wir über Wiesen und durch Wäldchen. Severian lächelt mich beruhigend an. "Die Naturgeister leben in anderen Behausungen als wir Menschen. Zu Anfang waren wir auch sehr verwirrt. Doch Titania ist auch eine ‚richtige' Stadt, Ihr werdet schon sehen." Und er behält Recht. Nach und nach sieht man einige Häuser aus Stein in wunderbar gepflegten Gärten.
Seltsam, dieses Haus sieht beinahe so aus, als wäre es aus dem Boden gewachsen. Keine hässliche Ecke, keine scharfe Kante und überall Blüten. Fast so schön wie unser Tempel in Descaer einst war, bevor ... nein, Severian hat gesagt, ich soll nicht daran denken, und ich höre auf ihn. "Kommt, Crysalgira, gehen wir weiter. Ein Stückchen Weg haben wir noch."
Jetzt befinden wir uns auf einer richtigen Straße und vor uns öffnet sich ein großer Platz. In seinem Zentrum steht eine Stele mit Inschriften. Ich möchte wissen, was dort geschrieben steht, und gehe geradewegs darauf zu.

"Crysalgira! Mein Augensternchen! Ihr hier?!" ruft jemand dicht neben mir. Erschrocken bleibe ich stehen. Ein hochgewachsener, weißgekleideter Nymph tritt vor mich hin und streckt mir beide Arme entgegen. Ich sehe in seine roten Augen und wie in einem Traum ergreife ich seine beiden Hände. "An ... Anthardes?" "Aber ja! Crysalgira, liebe Freundin, was ist mit Euch?" Ich kann ihn nur wortlos anstarren.
Severian kommt eilig hinzu, Edeltraut auf den Fersen. "Mein Herr, vergebt unserer Begleiterin. Sie ist krank, nicht sie selbst ..." Severian stottert. Anthardes wendet sich ihm zu, ohne meine Hände loszulassen. "Ich bin Anthardes Belnan Chiar Domm Ethar van Ghyr, ein Baumgeist. Und du bist ...?"
"Severian der Heiler, aus Neu-Descaer. Dies ist Edeltraut. Sie hat vor einigen Tagen diese Frau hier gefunden, allein und in tiefem Schlaf..." Severian berichtet und Anthardes hört aufmerksam zu. Tief betroffen sieht er mich an. Dann scheint er einen Entschluss zu fassen. Er unterbricht Serverian in seinen ausschweifenden Erklärungen. "Dies ist keine Sache, die mitten auf dem Marktplatz Titanias beredet werden sollte. Bitte folgt mir, ich führe euch in den Hain, wo wir der Macht der Natur noch näher sind. Dort will ich sehen, wie ich Euch zu helfen vermag."
Ich will mitkommen, aber ich bin wie erstarrt. Meine Füße gehorchen mir nicht mehr, ich zittere am ganzen Körper. Wieder hebt Severian mich hoch und langsam folgt er dem Dryad. Anthardes weist Severian an, mich im Schatten einer uralten Eiche abzusetzen. Erschöpft lehne ich mich an den Stamm, fühle seine sanfte Berührung im Rücken, höre das beruhigende Rauschen der Blätter.
Anthardes läßt sich neben mir nieder, bedeutet mit einem Blick und einer beiläufigen Geste Edeltraut und Severian uns allein zu lassen und legt seinen Arm um mich.
"Mein armes Augensternchen, wohin ist deine Seele nur geflohen? Was ist mit dir geschehen, seit wir einander im Elysion Lebewohl sagten? Ich freue mich unendlich, dich hier in unserem Reich zu sehen, aber wo hast du dich am Weg hierher verloren?"
Er legt seine andere Hand auf den Stamm des mächtigen Baumes und ich sehe ein sanftes Leuchten von seinem Stamm ausgehen, ähnlich dem der kleinen Syaris zuvor. Der Nymph gibt das Licht, welches ihn völlig durchflutet, noch viel, viel mächtiger an mich weiter. Dieses Licht... Es durchdringt mich bis tief ins Mark. Ich schließe die Augen und habe mit einem Mal keine Angst mehr vor den Bildern, die in mir aufsteigen.

Meine Kindheit auf der Glückseligen Insel - mein überstürzter Abschied von dort - Möllbarths Ruf - die langen Monde in Neu-Clanthon - der Flug in die Alte Welt - Clanthon und der Beginn des unseligen Krieges - die Zerstörung von Peutin - die verzweifelte Reise in den Sud nach Descaer - die völlig zerstörte Stadt - die hilflosen Flüchtlinge im Wald und das Tor der Macht - die langen Monde im Einhornwald und die letzten Kämpfe - meine Flucht nach Caswallon - das Elysion - Konrads Auftauchen - meine letzten Tage dort - der Weg in die Brocendias - der tiefe Schnee - die kleine Lichtung, auf der ich auf den Tod wartete, um den Tod gefleht hatte, den Tod, den ich dutzendfach verursacht hatte. Und meine Gebete waren gehört worden, aber anders, als ich erhofft hatte. Warme Dunkelheit umgab mich für lange Zeit, ein Sternenmeer, in dem meine Seele schwamm und ihre grausamen Schmerzen verlor, dann ein strahlendes Licht, ich schwebte über einer Wiese mit tausenden weißen Blüten. Eine riesige Hand ließ mich sanft ins Gras sinken und deckte mich zu.

Ich bin Crysalgira na'Halandra, eine Tochter der Glückseligen Insel. Ich habe gekämpft und gelitten, getötet und dafür gesühnt, ich habe aufgebaut und gerettet, gebetet und geboren, geliebt und geheilt, Zauber gewoben und Lieder gesungen. Ich weiß wieder, wer ich bin.
Langsam öffne ich die Augen und sehe diesen Freund an, der mir in der Fremde begegnet ist und mir von meiner unbekannten Heimat erzählt hat. Jetzt bin ich da.

Diese Geschichte spielt im Frühjahr 41 ndF.
Crysalgira, Endfassung März 2004