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Eine ganz und gar nicht niedliche Feengeschichte

Schmerz. Dunkelheit. Ein Flügel ist mir abgerissen. Der Stumpf ragt noch aus meinem Rücken, so dass ich mich kaum bewegen kann. Blut sickert aus der Wunde und läuft meinen Rücken hinunter. Ich hoffe, es hört bald auf. Ich liege auf dem Bauch auf einem Haufen schmutziger Lappen. Irgendwo dazwischen liegt auch mein Flügel.
Wenn mir nicht schon vor Angst schlecht wäre, mir würde übel von dem ständigen Schaukeln des Korbes, in dem ich liege. Ich muss mich an den Lappen festhalten, damit ich mit meinem Rücken nicht anstoße. Den anderen Flügel kann ich nicht bewegen. Aber fliegen könnte ich ohnehin nicht mehr. Der feine, bunte Staub, der ihn bedeckte, ist zerstört. Verwischt und verklebt, als dieses Wesen mich mit seinen schwitzigen Fingern ergriff. Schon, als es meine Flügel berührte wusste ich, dass etwas Furchtbares passiert war. So falsch fühlte es sich an, als könne es nicht wahr sein, als sei die Welt aus den Fugen geraten.
Was wird jetzt passieren? Wo gehe ich hin? Wo ist sie, meine schöne, bunte Wiese, die hohen Bäume an ihrem Rand, wo im Frühling die Vögel nisten? Und wo Dilessa wohnt, meine Freundin, die Dryade? Dilessa, hast Du gesehen, was mit mir geschehen ist, wohin es mit mir ging? Dilessa, komm und hol mich, es tut so weh! - Nein, bleib fort, Dilessa, wer weiß, was man dir antut. Gib Nachricht zur Geisterinsel, dass ein sterbliches Wesen in unseren Ländern wütet.
Die Übelkeit ist schlimm. Ich muss mich doch übergeben. Pollen und Tau, die ich heute morgen vor meinem ersten Flug zu mir genommen hatte. Ob Blut dabei ist? Ich kann es in diesem Licht nicht sehen. Es ist dunkel hier drin, wie in einer Neumondnacht.
Ich will nicht mit dem Gesicht in meinem Erbrochenen liegen, Pollen und Tau von heute morgen, und rolle mich herum. Der Schmerz! Wie Feuer rast er vom offenen Flügelstumpf durch meinen Körper. Das, aber vor allem die unaussprechliche Gewissheit, dass ein Teil von mir fehlt, brutal abgerissen ist, nimmt mir die Sinne. Nicht fühlen, nicht denken, nicht sein! Anhalten will ich, die Zeit anhalten und die Welt. Nichts soll passieren, nichts mehr mit mir passieren. Ich will nach Hause.

"Schau, wie es zappelt!" Jakaal stößt heiser zwei Lacher aus. "Bblblblblblblblblblblblblblbl!" macht er in das Gesicht des kleinen Wesens und lacht nochmal verachtend. Das Wesen ist stocksteif vor Schreck und starrt ihn mit großen, angstvollen Augen an. Jakaal geht um seinen Planwagen herum und nimmt aus der hinteren Öffnung einen Weidenkäfig. Dabei hält er das kleine Ding mit spitzen Fingern an dem verbleibenden Flügel. Er macht ein kleines Törchen an dem Käfig auf und lässt es durch die Öffnung hineinfallen. Es gibt einen quietschenden Ton von sich. Jakaal sagt "Ups!" und lacht wieder. Als er das Wesen auf der Wiese ergriff, hatte es noch mehr gequiekt und auch noch länger. Schade nur, dass bei dem wilden Gezappel ein Flügel abgerissen war. Sie waren viel weniger wert, wenn sie unvollständig waren. Jakaal überlegt sich, als er zurück zur Vorderseite des Wagens geht, ob er vielleicht den anderen Flügel auch noch abreißen soll, um dann zu behaupten, es habe gar keine gehabt. Aber man würde dann die Stümpfe auf seinem Rücken sehen und es könnte auch sein, dass es das nicht überlebte. Es war gefährlich genug, im Tieflandstreifen Kleinfeen zu fangen, da will er nicht riskieren, eine zu verlieren. Schließlich beschließt er abzuwarten, bis die eine Wunde weitgehend verheilt ist, um dann den anderen Flügel zu entfernen. Wirklich schade, denkt er missmutig, keine Flügel, halber Preis. Aber die Schmetterlingsflügel würden vielleicht auch ohne Anhängsel ihren Besitzer finden. Mit einem Grunzen stellt er den Käfig auf den Kutschbock und beugt sich über den Korb in dem das Feenwesen bis eben gelegen hatte. Irgendwo da hatte er auch den anderen Flügel hineingeworfen. Er wühlt in den schmutzigen Lappen, die darin liegen und zieht ihn letztendlich triumphierend daraus hervor.
"Hmmmmmmmmh!" macht er zufrieden und hält ihn in die Sonne. Trotzdem der Staub darauf verwischt ist, glänzt seine Oberfläche immer noch und lässt die verschmierten Farben leuchten. Sehr schön, er würde sie an eine seiner Strohpüppchen heften und sie als Kinderspielzeug verkaufen.

Es hat es schon wieder getan. Es hat mich bei meinem übrig gebliebenen Flügel gegriffen und hochgezerrt. Ich habe gezappelt wie wild, bis ich vor Schmerz keine Luft bekam. Und dann war da dieses schreckliche Monstergesicht direkt vor mir. Es war riesig und grauenvoll, mit dicken, gelben Zähnen, hervorquellenden Augen und besät mit borstigen, schwarzen Haaren. Es hat seinen grässlichen Mund aufgemacht und ein Wind wie aus den Tiefen des Sumpflandes wehte daraus hervor. Ich sah seine furchtbare, grellrote Zunge auf mich zuschnellen und glaubte, ich hätte die Qual nun hinter mir, als aus seiner Kehle ein rollendes Geräusch aufstieg, das anschwoll, mit einer Welle von Gestank aus seinem Rachen strömte und mich ohrenbetäubend überflutete. Einen Moment stockte mein Herz, und als es wieder begann zu schlagen, tat es das, ohne, dass ich es wollte.
Da drüben steht dieses Wesen und zieht aus einem Korb meinen Flügel hervor, meine schönen bunten Flügel. Mitternachtsblau war er, waren sie alle beide, mit leuchtend gelbem Muster. Weiße Tupfen waren auf ihren Spitzen und mattschwarz glänzten sie am Ansatz. Der weiche Puder, der sie bedeckte, schimmerte in der Sonne. Jetzt schimmert nichts mehr, nur ein Abdruck der schweißfeuchten Hand dieses Wesens ist noch darauf und ein paar verschmierte Farben.

Jakaal nimmt den Sack mit den Lappen und den Flügel und geht hinter den Wagen. Dabei blickt er sich misstrauisch um. Er muss sich beeilen, die Sonne steht schon hoch und er will noch vor dem Mittag aufbrechen. Es gibt gefährliche, hinterhältige Leute hier im Tieflandstreifen, Elfen, soweit er sich erinnert. Und die bringen einen um, ehe man sich versieht. Schnell steckt er den Flügel in eine hölzerne Schatulle und wirft den Sack in den Karren. Irgendwie fühlt er sich beobachtet, als wenn hier selbst die Büsche und Steine Augen hätten. Es wird Zeit.
Ächzend zieht Jakaal sich auf den Kutschbock. Dabei schwankt der Wagen gefährlich zu einer Seite und der Weidenkorb mit dem Feending kippt ihm entgegen. Mit einer Hand stößt er ihn wieder auf seinen Platz und lässt sich auf den Sitz fallen.
"Ho, Muli!" ruft er und weckt mit einem Knall seiner Peitsche das bis eben noch dösende Maultier auf. Das Muli stemmt sich mühsam in sein Geschirr und bringt den Karren schließlich ins Rollen.

Oberon hilf! So hilf mir doch, ich kann es nicht mehr ertragen. Plötzlich fing alles an, zu schwanken und ich konnte mich nicht festhalten. Ich bin auf den Rücken gefallen, auf den Rücken! Da wo mein Flügel fehlt. Mein schöner, bunter Flügel. Gleich darauf rüttelt es wieder und wieder und fiel ich, diesmal mit dem Gesicht nach unten auf den hölzernen Boden. Mir wurde schwarz vor Augen und ich musste würgen. Aber da ist nichts mehr. Nur noch Schmerz erfüllt mich und ich versuche gar nicht, mich aufzurichten. Japsend liege ich auf dem Gesicht und weine. Alles um mich herum rüttelt leise und die grausame Stimme dieses Wesens plärrt eine schiefe Melodie. Oh, Dilessa, wie schön konntest du singen, wie der Wind, der in den Gräsern spielt und die Glockenblumen läutet. Das alles ist so fern, es ist schon gar nicht mehr wahr.

Langsam schiebt sich die Sonne über ihren höchsten Punkt. In der Ferne sieht man schon die Wände des Hochlandes von Gybal Sham aufragen. Wenn Jakaal dort ist hat er es geschafft. Er singt ein Lied vor sich hin. Es handelt von lustigen Frauen und viel Wein. Ab und zu sieht er spähend zurück, um mögliche Verfolger auszumachen. Aber die Ebene ist leer. Keine verschlagenen Elfen oder gewalttätigen Zwerge sind zu sehen. Das Muli trottet mit hängendem Kopf auf den Rand des Tieflandstreifens zu.B
Es ist heiß und dunkel, wie in den Tiefen der Substanz. Mein Körper zittert und jagt Wellen von Schmerz durch alle Glieder. Der Stumpf nässt und trotz der Hitze friere ich. Es ist schrecklich. Ich erinnere mich nicht einmal mehr daran, ob es jemals anders war. Es soll aufhören! Windkobold komm und hol mich, ich will vergehen, eingehen in Lhur del Elomain, das Seelenmeer, die Kraft der Natur. Ich weiß, er wird kommen, um mich heimzuholen. Oberon hat mein Leid erfahren und der Wind ist sein Bote. Zitternd stehe ich auf um meinen Träger zu erwarten.
Von draußen höre ich eine Böe heranwehen, leises Sirren kündigt sie an. Mein Gefängnis ist aus Weide geflochten, der Wind kann ohne Mühe hindurchschlüpfen. Und dann spüre ich ihn, er ist ganz nah. Er ist wütend und braust, das grässliche Wesen schreit empört auf, aber das ist jetzt nicht mehr wichtig. Durch das Geflecht strömt die Brise herein, sie ist plötzlich sanft geworden. Sie streichelt meinen hitzigen Körper und trocknet meine Tränen. Es ist, als fege ihre Berührung alles Leid und Schmerz ab von mir. Dann hebt sie mich auf und weht mit mir durch das Gitter nach draußen. Der Himmel und die Sonne sind über mir, der Wind tanzt mit mir davon, nach Hause.

Jakaal stutzt und sieht sich hektisch um. Hinter ihm weht eine Staubwolke heran. Fast wie ein Wirbelwind sieht sie aus und sie tobt auf ihn zu,, als wäre der Karren ihr Ziel.
Konnten diese verruchten Elfen auch dem Wind befehlen? Jakaal hält das Muli an und als er sich wieder umdreht ist die Windhose direkt vor ihm. Sandkörner und kleine Steine peitschen in sein Gesicht und er taumelt rückwärts. Im Fallen kann er sich noch am Karren festhalten und hängt nun kläglich zwischen Kutschbock und dem Muli fest. Der Wirbel stürzt sich auf den Weidenkorb mit dem Feending und Jakaal glaubt, er würde ihn mit sich forttragen. Aber die Böe wird plötzlich ganz sanft, weht in das Geflecht hinein, ohne den Korb auch nur ein bisschen zu bewegen, und dann fliegt sie davon, einfach so in die Ebene hinein. Mühsam und grunzend hievt sich Jakaal wieder auf den Kutschbock und reißt eilig das Törchen des Weidenkäfigs auf. Der Käfig ist leer, keine Fee, kein Flügel, nicht einmal ein bisschen Blut vom Flügelstumpf des Wesens. Jakaal schreit wütend auf, dass es durch die Landschaft hallt und verzieht das Gesicht zu einer zornigen Fratze. Dann hechtet er vom Karren, rennt nach hinten und sucht fieberhaft nach der hölzernen Schatulle. Als er sie gefunden hat und sie mit fahrigen Fingern öffnet, ist auch sie vollkommen leer. Er schleudert sie in den Staub und stampft wieder nach vorn, klettert auf den Kutschbock und treibt das schon wieder dösende Muli mit Flüchen und Peitschenhieben zur Eile an.

Gnisseldrix
1998