Naturgeist

Credo
Clan
Völker
Land
Kultur
Geschichten
Lyrik
Rezepte
Cons
Galerie
Links
Neuigkeiten
Kontakt
Impressum
Home
Mittwinternacht

"Crys! Guten Morgen!"

Leises Klopfen folgte dem sanften Ruf, dann knarrte die Türe meines Schlafzimmers. Ein vertrauter Duft kitzelte mich in der Nase, also schlug ich doch die Augen auf.

"Guten Morgen, Mirana! Habe ich verschlafen? Es tut mir leid, wenn du dich deswegen in mein Haus bemühen musstest."
"Aber nicht doch! Ich dachte nur, ich komme herüber und mache Euch Frühstück - Ihr lasst ja nicht zu, dass sich irgend jemand um Euch kümmert, und diese Kleinfee, die bei Euch lebt, ist sicher nicht sehr zuverlässig, wie alle ihres Volkes ..."
"Mirana, lass gut sein. Wie oft soll ich es dir noch erklären? Ich brauche niemanden, der sich um mich kümmert! Ich bin eigentlich ganz froh darüber, dass keine Bediensteten mehr durch mein Haus wuseln, dass ich tun und lassen kann, was ich möchte. Warum wollt ihr alle das nicht verstehen? Ich kann ja noch nicht einmal dich dazu bringen, endlich dieses "Ihr" und "Euch" bleiben zu lassen!" Seufzend stand ich auf.
"Und Lirielle ist ein Naturgeist, sie ist meine Freundin und ich bin sehr froh darüber, dass sie sich mir angeschlossen hat. Sie hilft mir zu verstehen, wie sehr sich Menschen und Naturgeister doch unterscheiden, und auch wie sehr ich mich anscheinend von meinen Mitmenschen unterscheide. Ich habe keine Schwierigkeiten mit der Auffassung unserer Gastgeber, wie das Leben verlaufen soll und wie wenig wichtig Dinge wie Stellung im Leben und äußere Ehren eigentlich sind.
Aber das haben wir wohl schon ein Dutzend Mal besprochen", fügte ich hinzu, als ich sah, wie Mirana immer trauriger und verwirrter wurde. "Wir werden diese Fragen heute morgen bestimmt nicht lösen können und eigentlich ist es auch nicht so wichtig. Nun schau doch nicht so drein! Danke, dass du mir Frühstück gemacht hast! Ich freue mich ja darüber. Komm, wir trinken eine Tasse Café miteinander und du erzählst mir, was für den heutigen Mittwintertag geplant ist."

Wenig später machte ich mich mit Mirana auf den Weg ins Versammlungshaus von Neu-Descaer. Viele fleißige Hände waren damit beschäftigt, den großen Saal festlich zu schmücken. Mochte auch das Klima der Yddia wahrlich nicht dem entsprechen, was zu Mittwinter in Ageniron zu erwarten gewesen war, so hinderte der Mangel an Schnee und Kälte die Clanthonier nicht daran, eine ordentliche Feier vorzubereiten. Mir fehlten Kälte und Schnee ganz und gar nicht!
Im Hof des Versammlungshauses lagen wahre Berge von Holzscheitern, für das Sonnenfeuer, das ja bis zum Sonnenaufgang des nächsten Tages brennen sollte. Gegen meinen Willen hatte ich mich nach langem Drängen bereit erklärt, das Feuer bei Sonnenuntergang zu entzünden. Natürlich hatte ich das in Descaer immer getan, wenn ich zu Mittwinter in der Stadt war, und es war eigentlich ja auch nur eine kleine Geste. Und Anne hatte mir immer wieder wortreich erklärt, wie sehr sich die Neu-Descaerer doch freuen würden, und Mirana mir wohl hundertmal versichert, dass sie gerne darauf verzichte, es selbst zu tun. So hatte ich schließlich nachgegeben, wenigstens so weit konnte ich den Menschen schon entgegenkommen ...
Da kam auch schon Anne freudestrahlend auf mich zu, einen Becher warmen Würzwein in der Hand. "Es ist zwar noch ein wenig früh am Tag, aber was ist ein Mittwinter ohne Würzwein!" rief sie lächelnd. "Und es gibt auch frisches Früchtebrot, ganz wie früher." Anne war ein hoffnungsloser Fall. Solange sie viel Arbeit gehabt hatte, in den ersten Jahren nach der Ankunft der Descaerer in der Yddia, hatte sie ihren Blick nach vorne gerichtet. Aber seit das Leben in geregelten Bahnen verlief, kehrten ihre Gedanken immer öfter in die Vergangenheit zurück, und ich wusste, dass sie Heimweh hatte. Schon ihr zu liebe tat ich manches Mal so, als wäre ich noch ihre Gräfin und sie meine treue Helferin, auch wenn ich dabei kein gutes Gefühl hatte.

Mit Gelächter und freundlichem Geplauder verging der Tag, aus einem Seitenraum klang immer wieder Musik, die Tische bogen sich unter Speisen und Getränken. Alle Bewohner Neu-Descaers hatten sich versammelt.
Schließlich riefen Anne und Mirana die Kinder zusammen. Anne sprach: "Ich weiß, dass ihr alle schon ganz aufgeregt seid. Aber dennoch bitte ich euch darum, nicht zu vergessen, was wir euch immer wieder eingeschärft haben, und auch darauf zu achten, dass die Kleineren unter euch nicht gegen dieses Gebot verstoßen. Ihr dürft euch überall hier im Haus aufhalten und auch im Innenhof am Sonnenfeuer. Aber verlasst das Haus nicht! Heute ist Mittwinternacht und vielleicht reitet die Wilde Jagd. Das ist nichts für Menschen. Vergeßt nicht, die Geister dieses Landes sind keine clanthonischen Holden! Wir bleiben hier im Haus und am Feuer, bis die Sonne wieder aufgeht. Nun lauft!"
Ich wartete, bis die Kinder außer Hörweite waren.
"Anne? Was soll das heißen?" Kummervoll und ein wenig bitter sah Anne mich an. "Ich hätte mir denken können, dass du das nicht weißt, nicht einmal ahnst. Alles haben dir deine Geisterfreunde wohl auch nicht erzählt. Es gibt Nächte im Jahr, da ist es besser, wenn die Menschen in ihren Häusern bleiben. Die Geisterwelt ist dann ganz nah und ein Sterblicher mag wohl in ihren Bann gezogen werden. Ein paar Mal ist so etwas schon vorgekommen. Einen von diesen Unglücklichen, einen einfachen Handwerksburschen, haben wir nie wieder gesehen, und manche waren tagelang vollkommen wirr." Mirana nickte bestätigend und ich verzichtete auf weitere Fragen. Ich wollte die festliche Stimmung nicht stören und wahrscheinlich konnte ich von Lirielle mehr darüber erfahren als von den beiden Frauen. Aber ich bezweifelte doch stark, dass die Sache so bedenklich war, wie sie von den beiden dargestellt wurde.

Eine Stunde vor Sonnenuntergang kehrte ich in mein Haus zurück, um ein festlicheres Kleid anzuziehen. Auf dem Tisch in der Stube saß Lirielle und naschte Kekse.
"Wartest du schon lange auf mich? Ich war im Versammlungshaus, die Mittwinterfeier vorbereiten ..."
"Bist du fertig damit? Wir beide haben heute noch etwas vor!"
"Lirielle, ich muss wieder ins Versammlungshaus zurück! Ich soll doch bei Sonnenuntergang das Mittwinterfeuer entzünden, ich bin sicher, ich habe es dir schon gesagt. Was wolltest du mir denn zeigen?"
Lirielles schillernde Flügel schlugen sanft und sie lächelte geheimnisvoll. "Geh du dein Feuer anzünden, ich begleite dich und schau mir eure Feier an. Und bevor es Mitternacht wird, verschwinden wir still und leise."

Also gingen wir - das heißt, ich ging und Lirielle flog - ins Versammlungshaus hinüber und hinaus in den Innenhof. Tobias saß oben auf dem Dach und piepste aufgeregt: "Gleich! Gleich ist es so weit!" Er ruderte wild mit den Armen und wir Erwachsenen unten hielten die Luft an.
"Danke, Tobias!" rief Edeltraut. "Aber komm jetzt bitte wieder herunter, bevor du abrutscht." Tobias zögerte ein wenig, gehorchte aber dann doch. Geschickt kletterte er die lange Leiter hinunter. Edeltraut atmete auf, als er wieder auf dem Boden stand. Ich konnte sie gut verstehen. Wenn ich an so manche Streiche von Dorian dachte ...
Mirana, Sigismund und die kleine Crysalia traten aus der Türe. "Alle Lichter sind gelöscht!" verkündete Mirana feierlich. Sigismund hielt eine Fackel und reichte sie mir mit einer schwungvollen Verbeugung. "Bitte, Frau Crysalgira! Erweist uns die Ehre!"
Ich nahm die Fackel und entzündete sie mit einem Funken Magie. Dann trat ich an den Holzstoß und stieß sie tief hinein. Das Holz war so voll Harz, dass der Stoß im Nu lichterloh brannte. "Weltenschöpfers Segen für das Neue Jahr!" rief ich.
"Weltenschöpfers Segen für uns alle!" antwortete ein Chor von Stimmen mit dem traditionellen Segen.
Zwei kräftige junge Burschen schleppten einen großen Kessel mit Würzwein in den Hof, einige Mädchen folgten mit Stapeln von Tonbechern und gemeinsam stießen wir auf ein glückliches neues Jahr an.
Lirielle hielt den großen Becher mit beiden Händen und atmete den Duft der Gewürze ein. "Hmmmm! Ein sehr guter Brauch. Aber eines musst du mir noch erklären. Wieso löscht ihr erst alle Feuer aus und zündet sie dann wieder an?"
Ich seufzte abgrundtief. Lirielle hatte wahrlich die Begabung, Fragen zu stellen, welche die größten Weisen Magiras in Verlegenheit gebracht hätten.
"Ah, es hat also mit Glauben und so zu tun!" sagte sie und ihre Augen funkelten.
"Und woher weißt du das jetzt schon wieder?"
"Nun, ich weiß mittlerweile recht gut, wann du wie seufzt ..." Erwischt.
"Also gut, die einfache Erklärung für diesen Brauch ergibt sich aus der Beobachtung des Sonnenlaufs. Im Sommer sind die Tage länger, im Winter werden sie immer kürzer, bis zur Mittwinternacht. Nach dieser Nacht werden die Tage wieder länger, wenn zu Anfang auch nur unmerklich. In Teilen Agenirons ist es um diese Zeit bitterkalt und dunkel und viele Menschen fühlen sich daher nicht wohl. Auch wenn sie recht genau wissen, dass die Sonne wiederkommen wird und mit ihr der Frühling und der Sommer, so sind ihre Seelen doch bedrückt und die Mittwinterfeier, welche auch Jahreswendfeier genannt wird, heitert sie auf." Lirielle wollte etwas einwerfen, aber ich hob die Hand.
"Hör mir noch ein wenig zu. Das Feuer hier unten ist für die Menschen ein Abbild der Sonne da oben, die wir für ein Geschenk des Weltenschöpfers an die Menschen und die Welt halten. Im Feuer wohnt nach dem Glauben der Menschen eine reinigende Kraft, welche alles Unheil zu bannen vermag und Glück und Segen bringt. Und das Wiederentzünden der Herde und der Lampen mit einem Span vom Mittwinterfeuer läßt alle an diesem Segen teilhaben."
Die Kleinfee nickte nachdenklich. "So betrachtet ist es wirklich ein guter Brauch. Er beachtet das Walten der Natur und verbindet die Menschen ein wenig damit und das ist gut."

Im Versammlungshaus brannten mittlerweile wieder ein paar Kerzen und Lampen und fröhliches Gekreische, das immer lauter wurde, drang in den Hof.
"Was ist denn jetzt wieder los?" fragte Lirielle und flatterte hoch, um besser sehen zu können.
"Die Kinder bekommen ihre Geschenke", sagte ich lächelnd. "Und danach essen wir alle zusammen."

Einige Stunden später war von den so prächtig angerichteten Speisen nicht mehr allzu viel übrig und die meisten Anwesenden strahlten satte Zufriedenheit aus. Auch ich hatte ein wenig mehr gegessen, als ich eigentlich vorgehabt hatte. Jemand hatte mir einen großen Becher Café in die Hand gedrückt und ich fühlte mich rundum wohl. Den ganzen Abend lang hatte mir niemand mehr besondere Beachtung geschenkt, denn wie es der Brauch wollte, waren an Mittwinter alle Menschen gleich, und zumindest dieses eine Mal konnte ich einfach nur hier bei den anderen sitzen. Zu meinem Glück war das Lirielle nicht weiter aufgefallen, denn ihr das zu erklären, wäre mir wirklich sehr, sehr schwer gefallen. Ich hatte sie schon seit einiger Zeit nicht mehr herumflattern gesehen und es musste langsam auf Mitternacht zugehen. Sie hatte doch etwas vorgehabt mit mir .... naja, vielleicht war ihr etwas anderes eingefallen.
Da sah ich sie, wie sie mir von der Türe aus zuwinkte. Also trank ich den letzten Schluck Café und verließ unbemerkt den Saal.

Draußen herrschte tiefe Stille, was mir nach all dem Trubel sehr willkommen war. Die Nacht war sternenklar. Zielstrebig flog Lirielle auf den Rand der Stadt zu, zum Ufer des Blausilber. Dort wartete das schönste Geschöpf auf uns, das ich je gesehen hatte.
"Ein Silaryan!" flüsterte ich atemlos.
"Sie heißt Selvetan", sagte Lirielle, "und sie hat sich bereit erklärt, dich heute Nacht zu tragen." Einen passenderen Namen konnte es für die Stute wohl kaum geben. Silberblüte! Und ich sollte dieses wundervolle Geschöpf reiten? Entsetzt schüttelte ich den Kopf, ich war doch viel zu plump, zu ungeschickt ...
Die Silaryan bewegte ihren Kopf auf eine ganz bestimmte Weise, eine Geste der Belustigung, welche ich auch von gewöhnlichen Pferden kannte, und kam langsam auf mich zu. Fragend sah ich Lirielle an, doch die grinste nur von einem Ohr zum anderen. Also hob ich die Hand und streichelte vorsichtig die Nüstern der Stute.
"Nun steig schon auf! Sonst kommen wir noch zu spät!"
Immer noch unsicher, ob ich auch wirklich das Richtige tat, schwang ich mich auf Selvetans Rücken. Lirielle ließ sich vor mir nieder und schon ging es dahin, schneller, als ich jemals geritten war. Nicht einmal mein geliebter Rabenfell hätte da mithalten können. Selvetan schien nur so dahinzufliegen - was heißt schien? Ihre Hufe berührten den Boden nicht mehr. Mir war, als hörte ich ein helles Klingen in der Luft, wie von Dutzenden kleinen Silberglöckchen. Und von Fern die Töne einer Flöte, so schön, so herzzereißend sehnsüchtig, die mich zu rufen schienen.
Bei einem kleinen Wäldchen hatte sich ein langer Zug von Reitern formiert. Der Flötenspieler befand sich wohl mitten unter ihnen. Selvetan wurde ein wenig langsamer und schloß sich als letzte dem Zug an. Lirielle hob ab und flog nach vorn. So mancher Blick wandte sich mir zu, doch ich sah nichts als freundliches Willkommen auf den Gesichtern der Elfen, Kobolde und Feen. Weit vorn drehte sich eine Gestalt um und winkte. Konnte das Anthardes sein?
Mit einem Mal war Lirielle wieder da und landete. Ihr Blick war ausnahmsweise einmal sehr ernst. "Vertrau mir!" war alles, was sie sagte, und sie legte ihre Hand auf meine. Ich hatte tausend Fragen, aber dies war nicht der Augenblick, Fragen zu stellen. Also nickte ich nur.
"Freunde, laßt uns reiten!" ertönte plötzlich eine helle Stimme. Ich meinte noch, Finyen erkannt zu haben, dann begann die Welt sich um mich zu drehen. Ich wurde in einen Strudel aus leuchtenden Farben gerissen, sah nichts mehr, hörte nichts mehr, fühlte nichts mehr außer Lirielles kleiner Hand auf der meinen und Selvetans Rücken unter mir.
Dann stand die Welt wieder still und wir flogen darüber hin. Sanftes Licht umgab mich und ich holte tief Luft. Da erst fiel mir auf, dass ich wohl den Atem angehalten hatte. Unter mir sah ich grün leuchtende Wälder, saftige Wiesen, glitzernde Flüsse - zu schön, um wirklich zu sein.
Mühsam fand ich meine Stimme wieder. "Ist - ist das die Geisterinsel?" flüsterte ich rauh. Lirielle nickte nur. "Geht es dir gut?" fragte sie dann.
"Ehrlich gesagt, ich weiß nicht, wie es mir geht ..."

Selvetan sank sanft abwärts und tauchte in silberfarbenen Nebel ein, dann landete sie. Vorsichtig glitt ich von ihrem Rücken, mir war zutiefst bewusst, wie schwer mein Schritt auf diesem zauberischen Boden lasten würde. Steif stand ich da und wagte nicht, mich zu bewegen, wagte kaum zu atmen. Ich hatte hier nichts zu suchen, gehörte nicht hierher, störte durch mein bloßes Sein den Frieden dieses Landes ... Sehnsucht brannte schmerzhaft in meinem Herzen, Tränen rannen meine Wangen hinab und ich schloß die Augen, aus Angst, blind zu werden von so viel Schönheit.
Lirielle nahm meine Hand und zog mich zart, aber bestimmt vorwärts. "Öffne deine Augen wieder!" sagte sie sanft. Durch einen Schleier aus Tränen sah ich etwas vor mir, das nur das Seelenmeer sein konnte. Lichtpunkte tanzten auf dem Wasser, das keines war.
Tiefer Frieden erfüllte mich mit einem Mal, Frieden, den ich schon einmal gespürt hatte, in dem ich schon einmal für lange Zeit versunken war. Angst und Trauer waren wie weggeblasen von dem leisen Wind, der mich umspielte, und meine Sehnsucht war gestillt.
Ich war kein Eindringling hier, ich war ein Wesen auf der Suche und als solches willkommen, solange ich den Frieden nicht brach, solange mein unruhiger Menschengeist seine Ungeduld im Zaum zu halten vermochte. Ich versenkte mich tief in meine Seele und stillte mein Denken, war einfach nur noch da, ließ mich davontreiben, wie es mir schon einmal geschehen war.

"Crys! Crysalgira! Sieh mich an!"
Es fiel mir unendlich schwer, ich wollte diesen Frieden nicht verlassen, aber die Stimme drängte. Langsam, wie aus großer Tiefe, kehrte ich aus meiner Innenwelt zurück.
Lirielle stand vor mir, aber was für eine Lirielle! Sie war annähernd so groß wie ich, ihre Gestalt schien hell zu leuchten. Ich blinzelte - und sah vor mir wieder die Kleinfee, die mich mit großen, erschrockenen Augen anstarrte.
"Crys? Wir müssen gehen, ich hätte dich nicht hierher bringen sollen. Aber ich konnte ja nicht wissen ..." Sie verstummte.
Ich lächelte. "Ich glaube, ich war schon einmal hier, Lirielle. Oder an einem anderen Ort, der diesem hier gleich ist. Ich will nicht fort."
"Anthardes hat mir erzählt, wie schwer es war, deine Seele wirklich zurückzuholen. Du kannst nicht hierbleiben, es ist besser, wir verlassen die Geisterinsel schnell. Sonst verlierst du dich am Ende wieder - ach, und ich dachte, ich kenne euch Menschen inzwischen. Es gibt noch so viel, was ich nicht weiß, nicht verstehe..."
"Sehnsucht, Lirielle. Sie ist die Antwort auf viele Fragen..."
Doch Lirielle hörte mir nicht mehr zu. Sie drängte mich, wieder auf Selvetans Rücken zu steigen. Kaum saß ich oben, begann sich die Welt erneut zu drehen, alle Farben des Regenbogens leuchteten um mich herum, helles Lachen löste sich aus meiner Seele.
Da erloschen die Farben und unter uns lag Neu-Descaer. Funken sprühten aus dem Mittwinterfeuer hoch empor, ich meinte, fröhliche Stimmen und Musik zu hören.

Selvetan setzte uns wieder am Ufer des Blausilber ab. Schnell stieg ich ab und verneigte mich tief vor der Silaryan. "Ich danke dir und ich hoffe, wir sehen uns irgendwann einmal wieder." Selvetan schnaubte, stupste mich sanft und lief dann mit klingenden Hufen davon.
Lirielle und ich sahen uns an. Keine wollte das Schweigen brechen. Irgendwann würden wir darüber reden, was in dieser Nacht geschehen war, aber nicht jetzt. Jetzt sollte ich zurückkehren zu den Menschen, welche im Versammlungshaus auf den neuen Tag warteten.
Im Est rötete sich ganz sanft der Himmel. Die Mittwinternacht war vorbei.

Copyright © 2007 by Crysalgira