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Crysalgira na'Halandra

Der lange Weg ins Elysion

Elysion, Definitionen
  1. Paradies, Schatten- oder Nach-Todes-Welt einer seltsamen Kultur, welche bei vielen Völkern Magiras ihre Spuren hinterlassen hat. Laut altertümlichen Berichten von Reisenden, welche diesen Ort aufgesucht und - in einigen Fällen - auch wieder verlassen haben, eigentlich keine sehr erstrebenswerte Bleibe für Seelen, dennoch ein Synonym für den Ort auf Erden, an dem alle Sehnsüchte gestillt sind ...
  2. Etablissement in Chryseia, hat ebenfalls bei vielen Völkern Magiras bzw. deren Angehörigen seine deutlichen Spuren hinterlassen. Laut Berichten von Reisenden, welche diesen Ort aufgesucht und in den meisten Fällen wieder verlassen haben, ein lohnenswertes Reiseziel, auch wenn manche dort ihre Seele verloren haben ... oder ihr Herz oder ihren Geldbeutel oder den letzten Rest ihres guten Namens ...
Erste Etappe

Zeit: Pegasusmond des Jahres 35 n.d.F.
Ort:  am Stadtrand von Caswallon

Kurz vor Sonnenuntergang näherte ich mich zu Fuß dem Stadtrand von Caswallon. Ein Straßenhändler mit einem Karren voller Früchte wartete sichtlich gelangweilt auf die letzte Kundschaft des Tages, welche sich nun aus der Stadt auf den Heimweg machte.
"Guten Abend, geehrter Bewohner des schönen Caswallon!" lächelte ich ihn freundlich an. "Helft einer müden Reisenden doch ohne Verzug ihr Ziel in dieser Stadt zu finden, damit ich heute Nacht eine andere Bettstatt finden möge als den harten Boden des Waldes. Ich suche die Straße der Masken!" Das war nicht die beste, aber auch nicht die schlechteste Gegend in der Stadt.
Er musterte mich von Kopf bis Fuss und was er sah, gefiel ihm anscheinend ganz und gar nicht. Ich konnte ihn verstehen. Vor vielen Tagen hatte ich den Hohen Freyhof in Clanthon verlassen und war ohne Rast nach Caswallon geritten. Mein Weg hatte mich über den Frühlingspfad entlang der clanthonischen Grenze und den Pass der Riesen bis in den Talkessel von Caswallon geführt. Ich hatte die Straßen gemieden, wie auch schon auf meinem langen Weg vom Sud zum Freyhof. Ich glaubte nicht daran, dass irgendwer auch nur das geringste Interesse daran hatte, mich zu verfolgen, viel eher war mein leises und unauffälliges Verschwinden ganz im Sinne der herrschenden Mächte. Dennoch sollte der Ort meines selbstgewählten Exils vorerst noch ein Geheimnis bleiben. Aber mein Pferd und ich waren jetzt seit Wochen abseits der Straßen über Wald- und Feldwege unterwegs, der schwarze Hengst war völlig verdreckt und erschöpft und ich sah wahrscheinlich nicht viel besser aus. Ich hatte kein Gepäck bei mir außer meinem Umhang, der zusammengerollt am Sattel festgebunden war. Ich weiß nicht, ob ich als Bewohner einer großen und reichen Stadt mit so einer Landstreicherin ein Wort gewechselt hätte ...
Doch dies war Caswallon.
"Habt Ihr Geld, Fremde?" Ich nickte zögerlich. "Könnt Ihr eine Karte lesen ?" Ich nickte etwas bestimmter. Er zog einen Fetzen Pergament aus seinem Umhängebeutel. Mit wenigen geschickten Strichen war darauf eine Art Plan der Stadt dargestellt. Im Zentrum lag die Burg, rund um sie die Stadt. "Haltet geradewegs auf die Burg zu und geht am Vorplatz nach rechts, ins yddliche Viertel. Hier" - er markierte eine Stelle mit seinem langen Daumennagel - "beginnt die Straße der Masken. Sie liegt im Viertel der daGuzzi, das hier" - er wies auf eine andere Stelle - "ist ihr Palast."
"Was wollt Ihr für diese wunderbare Karte?" "Was Ihr gerne gebt, meine Dame!" Ahhh, jetzt wo es ans Bezahlen ging, war ich plötzlich eine Dame ... Ich reichte ihm fünf Gräten aus meinem Beutel. Er lächelte kaum merklich. Wahrscheinlich war das viel zu viel gewesen.
Doch so übermüdet, wie ich nun einmal war, hatte ich nicht handeln wollen. Mit meiner Karte in der Hand und Rabenfell am Zügel machte ich mich auf den Weg.

Mittlerweile war es ziemlich dunkel und es war lange her, dass ich durch die Straße der Masken spaziert war. Ich fragte zwei Kinder, welche auf der Straße mit Treibreifen spielten, nach dem "Rosenhaus". Der ungewaschene kleine Bengel sah mich nur frech an, das Mädchen war ein wenig freundlicher. "Ihr müsst noch zehn Häuser weiter gehen!" Ich schenkte ihr einen Apfel, das letzte essbare Gut, das ich noch bei mir hatte.
Da! Das war es. Der mit Rosen verzierte Fries über dem schweren hölzernen Eingangstor war unverkennbar. Ich betätigte den Messingklopfer. Nichts rührte sich. Gleich würde ich im Stehen einschlafen, also pochte ich ein wenig heftiger.
"Wer da?" tönte es. "Bist du es, Vosco? Lass mich ein, ich habe einen weiten Weg hinter mir!" Das Tor öffnete sich. Misstrauisch musterte mich der Haushüter. Nunja, ich konnte es ihm nicht verdenken. Als er mich das letzte Mal gesehen hatte, hatte ich wohl ein wenig anders ausgesehen ...
"Willst du mich hier auf der Straße stehen lassen?" fragte ich ein wenig ungeduldig. Seine Frau Rima kam hinzu. Sie riss die Augen auf. "Frau von Riedland! Vosco, das ist Frau Rose!"
Unter diesem Namen hatte ich einst das kleine Häuschen gekauft und bei einem Bankier der Stadt eine größere Summe Goldes für die Erhaltung des Anwesens und alle notwendigen Ausgaben hinterlegt. Vosco und Rima waren ein älteres Ehepaar, das sozusagen zum Inventar des Hauses gehörte. Adikema, die Gräfin von Peutin und einst meine teure Freundin, mit deren Hilfe ich meinen kleinen Zufluchtsort in Caswallon vor Jahren erworben hatte, hatte die Anspielung auf meine wahre Identität sehr lustig gefunden. Die "Rose von Descaer", welche auch noch Baronin von Riedland gewesen war, bis vor wenigen Tagen....

"Guten Morgen, edle Dame!" Vorsichtig balancierte Rima ein wohlgefülltes Tablett durch die halb geöffnete Türe meines Schlafgemaches. "Guten Morgen, Rima. Ihr macht euch wirklich zu viele Umstände." Es war ihr einfach nicht beizubringen, dass die Morgenmahlzeit für mich die unwichtigste des Tages war. Rima war der Meinung, dass ich zu wenig aß und viel zu einfache Gerichte.
Während der langen Wochen, als ich mein Bett kaum verlassen wollte, hatten sie und Vosco sich rührend um mich gekümmert. Ausgewählte Speisen und Getränke hatten meinen Lebenswillen neu anfachen sollen, Stoffhändler und Schneider kümmerten sich um eine standesgemäße Garderobe, meine Haare und meine Haut waren ausgedehnten Behandlungen unterworfen worden. Den Physikus, der mir mit allen möglichen Pillen und Tränken und sogar einem Aderlass zu Leibe hatte rücken wollen, war ich nur mit Mühe und Not wieder losgeworden. Vosco hatte ihn mir als "Mario Venantio, der Arzt in diesem Viertel, er steht im Dienst der Familia daGuzzi!" vorgestellt. Der Arzt hatte mir unbedingt behilflich sein wollen, aber ich hatte dankend abgelehnt und ihm erklärt, dass ich an einer Verstimmung des Gemüts, nicht des Körpers litt. Scheinbar war Vosco mit jedermann gut bekannt, wenn ein Arzt dieser Familia seinem Ruf gefolgt war. Wenn ich so darüber nachdachte, wurde mir klar, dass der ältere, ach so harmlose Mann vermutlich über einige Verbindungen verfügte.

Rima sprach weiter: "Lugio Monetas, der Geldverleiher, hat den neuesten Bericht übersandt. Er hat angefragt, ob er vielleicht vorsprechen dürfte. Es gäbe da einiges zu klären, hat sein Bote berichtet." Das war eine weitere angenehme Überraschung gewesen. Mein Gold hatte für mich gearbeitet. Nicht nur, dass vom Ertrag der Unterhalt des Hauses und die kleine Summe, welche Vosco und Rima jährlich für ihre Tätigkeit erhielten, bestritten worden war, nein, das Geld hatte auch noch Junge bekommen ... ich will nicht behaupten, dass ich dies jemals verstehen würde. In solchen Augenblicken vermisste ich Cserni Cserski am meisten. Die langen Abende am Kamin, als er versuchte, mir zu erklären, wie "Wirtschaft" funktionierte. Nichts brachte seiner Meinung nach die Seelen der Menschen so sehr in Gefahr wie Gier. Und er musste es ja wissen ...
Jedenfalls brauchte ich mir scheinbar keine großen Sorgen zu machen, wovon ich in den nächsten Jahren meines Exils leben würde. Doch kaum war dieser Gedanke in mir aufgestiegen, sank meine Stimmung wieder ins Bodenlose. Was lag denn schon vor mir? Wozu brauchte ich Gold und Gut? Ich ließ mich in die Kissen zurücksinken und schloss die Augen.
Rima seufzte laut und vernehmlich. "Ich werden Maester Monetas' Boten sagen, dass alles weiterhin so gemacht werden soll wie bisher. Ruht Euch noch ein wenig aus." Leise schloss sie die Türe hinter sich.

Einen Mond nach meiner Ankunft wurde meine Ruhe doch gestört. Vosco bedeutete mir, dass ich den Herrn, der mich jetzt zu sprechen wünschte, auf keinen Fall abweisen durfte. "Er wird Euch nur einige Fragen stellen, Ihr wisst schon, für das Protokoll ..." Das Protokoll. Ein caswallonisches Zauberwort. Im Stillen hatte ich mich öfter gewundert, wem das nützte, alles in Archiven niederzulegen und für die Ewigkeit zu bewahren ... Fast hätte ich Vosco gefragt, warum er diese Fragen nicht schon längst selbst beantwortet hatte. Ich war mir mittlerweile ziemlich sicher, dass auch er im Sold des berüchtigten Caswallonischen Geheimdienstes stand. In dieser Stadt tat das anscheinend jeder, wenn er nicht einer Familia verschworen war, für die er spionierte. "Er möge eintreten", erwiderte ich und versuchte, halbwegs gelassen zu erscheinen. Möglicherweise saß ich jetzt in der Klemme ....

Zumindest hatten sie mir einen schönen Spitzel geschickt! Die vornehm in schwarzen Samt gehüllte Erscheinung trug einen modischen Spazierstock und Schuhe von einer Form, die mich an spitze Vogelschnäbel erinnerte. "Nehmt doch Platz, mein Herr!"
Er ließ sich nieder, als hätte er gar nichts anderes erwartet. Er schien es auch nicht für notwendig zu halten, seinen Namen zu nennen, und ich fragte ihn nicht danach.
"Ich wünsche Euch ein paar Fragen zu stellen, für die Archivschreiber - ich nehme an, Ihr wisst, für wen ich tätig bin." Wissen konnte ich es nicht, aber denken konnte ich es mir schon, also nickte ich. "Euer Name ist Rose von Riedland?" "So ist es!" sagte ich mit fester Stimme. Hatten seine Augen kurz aufgeblitzt? "Dieses Haus gehört Euch?" Ich nickte. "Adelig von Geburt?" Erneut nickte ich. Von Geburt bestimmt, auch wenn mein jetziger Status wohl sehr, sehr fraglich war.
"Ihr kommt aus Clanthon." Keine Frage, eine Feststellung. "Riedland gehört zur Markgrafschaft Descaer." Oho, er wusste etwas mehr von der Welt außerhalb des Kessels von Caswallon, als ich ihm zugetraut hätte. "Vermutlich seid Ihr vor den Kriegswirren geflüchtet?" Ich ließ den Kopf hängen. Mochte er doch denken, was er wollte, mich für einen Feigling halten, es war nicht wichtig.
"Caswallon hat Verständnis für jene, die dem Krieg aus dem Weg gehen wollen." Überrascht hob ich den Kopf. "Aber wir stellen einige Fragen. - Habt Ihr Freunde oder Bekannte in der Stadt, welche für Euch bürgen könnten? "Nun, Vosco und Rima, sie wissen, wer ich bin. Und Lugio Monetas, der Geldverleiher, kennt mich auch. Er bewahrt einige Wert auf, die mir gehören." Das schien ihn nicht wirklich zu interessieren. Eine kurze Pause trat ein.
"Sonst niemand?" fragte er dann. Ich schüttelte den Kopf. Ja, ich hätte auch Adikema nennen können, sie war schon seit über einem Jahr in der Stadt und bewohnte in ihrer jetzigen hohen Stellung als geehrter Gast der Vora eine ganz andere Bleibe als dieses unscheinbare Häuschen, welches uns einst so gut gefallen hatte. "Ich war schon sehr, sehr lange nicht mehr hier - der Krieg."
Nein, ich hatte mir das kurze Minenspiel vorhin nicht eingebildet, es war schon wieder da.
"Zweck Eures Aufenthaltes in Caswallon?" Ich wollte mich erholen, zu mir selbst finden, herausfinden, was ich jetzt tun würde, vielleicht sogar Vermion ra Ys meine Dienste anbieten, wenn sie mich haben wollte. "Ich brauche dringend Erholung und Zerstreuung, Maester. Ich habe vieles erlebt und gesehen, dass ich vergessen möchte und doch nicht kann." Vielleicht zog ja die Mitleidsmasche. Sein Gesicht blieb unbewegt.
"Übt Ihr ein Gewerbe oder einen Beruf aus?" Das war jetzt eine wirklich schwierige Frage. Eine Stelle als Markgräfin war bestimmt nicht frei! Ebensowenig bestand vermutlich Bedarf an einer Stadtverwalterin, einer Heerführerin oder einer Partisanenkriegerin. Und überhaupt, er wusste doch schon, dass ich eine Adelige war! Die arbeiteten doch nicht! Sicherheitshalber schüttelte ich den Kopf. "Nun gut, solltet Ihr Euch dennoch dazu entschließen, etwas anderes zu tun, als Euch dem süßen Nichtstun hinzugeben, so steht Euch dies frei. Vosco kann Euch die notwendigen Schritte erläutern." Wie bitte? Es stand mir frei, aber es gab Schritte, die man unternehmen musste? Wie sollte ich das denn jetzt verstehen?
"Seid Ihr bewandert im Schwertkampf oder in der Kunst des Bogenschießens?" "Beides, wie es meiner Abstammung und meinem Rang entspricht." Autsch! Idiotin!! Ich war immer noch viel zu müde. Doch eigenartiger Weise blieb das kurze Aufleuchten dieses Mal aus. Vielleicht schob er meine unvorsichtige Antwort auf die berühmt-berüchtigte Arroganz der Clanthern ...
"Aber ich habe keine Waffen außer dieser hier." Ich wies auf das Messer in meinem Gürtel. "Ich hoffe, hier keine zu brauchen."
"Dann habt Ihr auch keine Fehde mit einer Familia oder einem Bürger Caswallons, zumindest wisst Ihr nichts davon." Sollte das jetzt so etwas wie ein Scherz sein!? Nein, offensichtlich meinte er das sehr, sehr ernst. Ich wusste natürlich, dass es die Familien gab und dass sie miteinander in einem Wettstreit zu stehen schienen, dessen Sinn und Zweck ich nicht ganz verstand, aber nicht viel mehr.
"Dieses Haus war vorher im Besitz der daGuzzis, so weit ich das weiß. Und der Arzt Mario Venantio, der im Dienst der daGuzzis steht, hat mich einmal aufgesucht. Sie sind die einzige Familia Caswallons, von der ich ein wenig mehr als den Namen kenne."
"Das war auch schon alles, was ich wissen wollte." Zum ersten Mal sah er mich direkt an. "Und einen Rat bekommt Ihr noch dazu. Fangt keinen Streit an, lasst Euch in keinen hineinziehen und bedenkt, dass Zauberei hier genauso als Waffe gilt wie ein Dolch oder Gift." Mit einer knappen Verneigung verließ er das Zimmer. Was hatte er mir damit sagen wollen? War dies eine freundliche Warnung, die alle Fremden mit auf den Weg bekamen? Er konnte nicht wissen, warum ich keine Waffen brauchte. Oder doch?

Der Winter war gekommen und gegangen. Ungewöhnlich hart war er gewesen. An den schattigen Stellen des Gartens hinter dem Haus lagen noch Reste schmutzigen Schnees. Doch langsam erwachte der Frühling und die Tage wurden wieder heller und wärmer. Nur in meiner Seele herrschte immer noch Eiseskälte.
Lautes Pochen an den Toren des Hauses riss mich aus meiner Versunkenheit. Wie lange hatte ich eigentlich schon auf die selbe Seite des Buches gestarrt, ohne sie wahrzunehmen? Doch wenn ich hier saß und wenigstens vorgab zu lesen, dann ließ Rima mich in Ruhe.
"Öffnet das Tor für Adikema, Gräfin von Peutin!" Ich musste mich verhört haben, mein Geist verwirrte sich zusehends. Woher sollte dieser Schatten aus meiner Vergangenheit kommen, wenn nicht aus kranken Fantasien meines Hirns?
"Frau Rose! Eine Dame ist hier und wünscht Euch zu sehen. Sie ließ sich nicht abweisen!" Rima stürzte ins Zimmer, Vosco folgte ihr etwas langsamer. Und hinter Vosco ...
"Adikema!" flüsterte ich. Mühsam erhob ich mich aus meinem Lehnstuhl und sank in eine tiefe Verbeugung.. "Seid gegrüßt, verehrte Gräfin! Vosco, Rima, dies ist Gräfin Adikema, meine Herrin und damit Herrin dieses Hauses. Ich stehe - stand in ihren Diensten."
Rima und Vosco mochten wohl bestürzt sein, doch sie waren zu sehr Caswallonier, um sich etwas anmerken zu lassen. Formvollendet verbeugten sie sich vor ihr und hießen sie willkommen.
Adikema nickte, dann befahl sie: "Bringt Wein und etwas zu essen für mich und versorgt meine Begleiter. Wir werden einige Stunden bleiben. Und dann lasst uns allein. Ich habe mit ... Rose von Riedland zu sprechen!" Hatte ich mir das Zögern in ihrer Stimme nur eingebildet? Nein, denn Vosco sah mich scharf an, bevor er hinausging.
Kein Wort fiel, bis Rima mit Wein und ausgesuchten Köstlichkeiten zurückkehrte. Schnell und geschickt deckte sie den kleinen Tisch, goß Wein in zwei Kelche und verließ auf leisen Sohlen den Raum.
Immer noch schwieg Adikema. Wie es sich für eine kleine Adelige gehörte, stand ich da und wartete, dass sie das Wort an mich richtete. Dann brach es aus ihr heraus:
"Du willst diese Scharade also immer noch aufrecht erhalten? Ich bin deine ehemalige Herrin? Du bist ‚Rose von Riedland', die vom Krieg halb zu Tode verängstigte Landpomeranze? Lächerlich! Du bist Crysalgira von Descaer, Clantherin, Markgräfin, Schwert des Königs, Hüterin der Mark! Glaubst du wirklich, dass du irgendjemanden getäuscht hast? Irgendjemanden, der wichtig ist? Vosco gehört dem Caswallonischen Geheimdienst an, er wusste von Anfang an, wer du wirklich bist. Und wenn er es weiß und hier für dich ‚arbeitet', dann weiß es auch Derfil. Und natürlich auch die Vora! Denkst du, der Hof in Peutin hat keine Spione in der Stadt? Bis jetzt ist nur deshalb nichts geschehen, weil du dich ruhig verhalten hast! Die halbe Welt weiß mittlerweile von dem Schauspiel, das du dem Heer geliefert hast, dank deinem treuen Freund und Bewunderer Konrad von Moorland. Landauf, landab erzählt man sich, wie Crysalgira von Descaer in just jenem Augenblick verschwand, der Clanthon den Frieden brachte! Dein Verhalten bereitet den Clanthern Schande!"
"Bist du gekommen, um mir das zu sagen, Gräfin Adikema? Wie kann ich jemandem Schande bereiten, der seine Ehre längst verloren hat? Rose von Riedland weiß von all diesen Dingen nichts und kennt die hohen Herrschaften nicht, sie kann schweigen und trauern. Crysalgira na'Halandra müsste von den Dächern schreien, dass Clanthon ihr verpfändetes Wort mit Füßen getreten hat! Clanthons Frieden? Clanthons Totenruhe, meinst du wohl!
Mit ganzer Kraft habe ich mich bemüht, jenes Bündnis mit dem Dunklen Imperium zu Stande zu bringen, das uns wieder zu Herren im eigenen Land machen sollte! Auch meinetwegen hat Cserni Cserski seinen ganzen Einfluss aufgebracht, um Clanthon zu helfen! Clanthons Kinder sind in meinen Armen gestorben in diesem verfluchten Krieg! Und einen kurzen Augenblick, einen einzigen Schritt noch vor dem letzten Kampf gibt Clanthon auf und verbündet sich mit jenen, die uns verraten und beinahe zerstört haben ..." Erschöpft sank ich auf meinen Stuhl, ich war zu schwach zum Stehen. Aber ich war noch nicht fertig mit dem, was ich zu sagen hatte.
"Ja, ich bin Crysalgira, aber von der Insel Halandra, nicht von Descaer. Das liegt hinter mir. Ich wurde nicht als Clantherin geboren, ich wurde es durch den Ruf des Königs, wie du sehr wohl weißt. Doch sein Ruf ist schon vor Jahren verstummt ... als das Königsheil uns verließ. Oder behauptest du etwa, wir hätten es noch? Das wäre lächerlich. Cserni Cserski ist verschwunden, ich weiß nicht, wohin, nach einem häßlichen Streit. Er hat wohl geahnt, was geschehen würde, und mich gewarnt, doch ich wollte, ich konnte ihm nicht glauben. Meinen Sohn habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen ..." Jetzt flüsterte ich nur noch. "Es ist mir gleich, wer aller weiß, wer und wo ich bin, solange niemand mir Fragen stellt, die ich nicht beantworten möchte. Du hast es selbst gesagt, ich habe nichts gesagt oder getan, was man als Verrat auslegen könnte, ich bin nur einfach gegangen. So, wie ich vor vielen Jahren einst einfach gekommen bin. Und Konrad, der liebe, dumme Tor - man wird ihn zum Schweigen bringen und ich kann ihm nicht mehr helfen. Ich habe ihn oft gewarnt, er hat immer mehr laut gesagt, als für ihn gut war. Gib mir noch ein paar Stunden, dann bin ich fort aus der Stadt. Du hast sicher dringendere Geschäfte hier, als mit mir zu streiten." Ich verstummte.
Adikema hatte mich während meiner langen Rede unverwandt angeschaut, jetzt senkte sie ihren Blick. "Liebste, bitte ... ich will dich nicht vertreiben. Du bist krank, erschöpft, das sehe ich jetzt. Jetzt begreife ich auch, warum du mein Haus nicht aufgesucht hast in den langen Wochen, die du nun schon hier bist. Warum du nirgendwo meinen Namen genannt hast. Crys - wir kennen uns nun schon so viele Jahre, wir waren einander stets treu, auch wenn unsere Wege oft in verschiedene Richtungen geführt haben. Ach, mag sein, du konntest wirklich nicht anders handeln - du bist eben, wer du bist. Und dafür habe ich dich immer geliebt, weil du nie wie die anderen warst. Ich habe deinen Frieden gestört. Vergib' mir!"
"Frieden? Ach, Addi, für mich gibt es keinen Frieden. Ich habe meine Familie verloren, meine Heimat, jene Stadt, die für mich ein Abbild des Elysion in der Welt war. Ich habe jene Menschen verlassen, dir mir vertraut haben, die mir ihren Eid geleistet hatten. Meine Freunde ... die langen Nächte voller Gesang und Sternenglanz ... das Lied der Priesterinnen im Tempel ... den größten Teil meiner zauberischen Kräfte." Wie gerne hätte ich geweint, doch ich hatte schon lange keine Tränen mehr. "Du hast meine Beherrschung gebrochen, jene Disziplin, die mir ermöglicht weiterzuleben, nicht mehr." Wieder verstummte ich.
Sie sah mich an, in ihren Augen standen die Tränen, die ich nicht weinen konnte. Wir schwiegen beide. Was hätten wir auch noch sagen sollen?

Eine halbe Ewigkeit später klopfte es zaghaft an der Türe. Adikema räusperte sich. "Ja, was ist?"
"Ein Bote der Vora, verehrte Frau Gräfin!"
"Er möge kommen."
Der Bote trat ein und überreichte Adikema mit einer tiefen Verbeugung eine Briefrolle, verschnürt und gesiegelt. "Ich soll auf eine Antwort warten", sagte er und zog sich wieder bis zur Türe zurück.
Adikema brach das Siegel und las. Sie hob den Kopf und sah mich an. "Die Vora lädt uns zu einer ‚kleinen, zwanglosen' Festlichkeit. Die Botschaft richtet sich an Adikema, Gräfin von Peutin und ‚ihre Begleiterin, welche schon länger in unserer Stadt weilt'. Mitkommen musst du wohl, aber sie stellt dir frei, wer du sein möchtest."
Sie wandte sich an den Boten. "Sage der Vora unseren Dank und wir werden nicht versäumen, ihre großzügige Gastfreundschaft zu genießen." Er verbeugte sich erneut und ging. Rima trat ein. "Verzeiht, aber soll ich nach einem Haarkünstler und vielleicht einer Schneiderin senden?"
Adikema sah mich an, aber ich brachte kein Wort über die Lippen. So antwortete sie: "Bitte, tut das, gute Frau. Und lasst ein Bad richten."
Sanft nahm sie meine Hand. "Crys, du musst. Es tut mir Leid, ich habe dein verborgenes Leben zerstört, aber zur Vora kann man nicht Nein sagen. Nicht einmal du!" Sie lächelte zaghaft.

Die Zeit bis zur Abenddämmerung verging mit hektischen Vorbereitungen. Als draußen vor dem Tor eine jener Kaleschen vorfuhr, wie vornehme Caswallonier sie auch für den kleinsten Weg benützen, warteten Adikema und ich bereits im Vorraum. Wir trugen beide schwarz. Bei ihr war es Gewohnheit, bei mir - nun, meine weißen Gewänder, welche einst dem Gerücht Nahrung verliehen hatten, dass Clanthern im Dunkeln leuchten, würde ich sobald nicht wieder anlegen. Zudem hatte ich mich verschleiert.
In rascher Fahrt ging es zum Ort des Festes. Wir waren unter den Letzten, die ankamen - wahrscheinlich war das so geplant gewesen. Netter Trick. Mit lauter Stimme verkündete ein Herold: "Adikema von den Wächtern des Einhorn, Gräfin von Peutin!" Scheinbar war er angewiesen worden, die Begleitung der Gräfin nicht anzukündigen - Rücksichtnahme der Vora? Ich mochte es nicht wirklich glauben.
Wenige Schritte später stand ich schon vor ihr. Und so, wie sie mich ansah, trotz meines dichten Schleiers, zweifelte ich keinen Lidschlag lang mehr daran, dass sie die ganze Zeit gewusst hatte, wen sie in ihren Mauern beherbergte.
"Seid gegrüßt, edle Gräfin! Ich bin erfreut, Euch wieder einmal zu sehen." Adikema verneigte sich und dankte in wohlgesetzten Worten für die Einladung.
"Und Ihr?" richtete die Vora schließlich das Wort an mich. "Wie soll ich Euch jetzt nennen?" Ich verneigte mich tief vor der mächtigen Herrin Caswallons. "Crysalgira na'Halandra ist der Name, unter dem Ihr mich seit einigen Jahren kennt, äußerst edle Vora. Ich flehe Euch an, vergebt mir meine kleine Täuschung. Ich wollte nichts und niemandem damit schaden, am wenigsten den Interessen Caswallons ... ich wollte nur meine Ruhe."
"Das ist mir wohlbekannt - wäre es anders, so hättet Ihr Eure Ruhe nicht so lange gehabt." Lächelte die hohe Frau? Fast schien es so. "Nun, vergnügt Euch, genießt diesen Abend - wir haben die besten Sänger und Tänzer zu uns geladen." Damit waren wir entlassen.
Adikema wurde von verschiedenen Würdenträgern in Gespräche verwickelt. Da! War das nicht Derfil? Was mochte er bloss wollen? Egal, es ging mich nichts mehr an.
Mich ließ man in Ruhe, man schnitt mich nicht, versuchte aber auch nicht, mich anzusprechen. Da war wohl die Hand der Vora am Werk - solche Zurückhaltung gegenüber einem neuen Gesicht, mit dem die Vora persönlich gesprochen hatte ...
Ich blieb solange, wie die Höflichkeir gebot, und lauschte den Musikern und Sängern. Beeindruckend waren auch die Tänzer in ihren wunderschönen Gewändern, die sich in vollendeter Harmonie zum Klang von Flöte und Laute bewegten. Dann wollte ich mich leise davon machen, doch der Vora entging nichts. Ein Dienstbote hielt mich auf und führte mich in den Garten in eine Laube.
"So weilt Crysalgira wieder unter den Lebenden. Rose von Riedland war aber auch gar zu langweilig." Die Vora lächelte. "Macht Euch darauf gefasst, in den nächsten Monden werdet Ihr bestimmt mit Einladungen überschüttet. Ihr seid eine Novitatia und das lassen sich meine Caswallonier nicht lange entgehen, Eure Geschichte ist geheimnisvoll und ein wenig tragisch zugleich. Die Neugier ist groß und niemand kann wissen, ob eine freundschaftliche Verbindung mit Euch nicht doch einmal nützlich sein könnte. Es wäre unklug, alle Einladungen abzulehnen, fragt doch den guten Vosco, welche Ihr annehmen solltet." Ich schwieg und das schien ihr zu gefallen. So unerfahren war ich im Spiel der Politik nicht, dass ich irgendeine Reaktion gezeigt hätte, bloss weil mein Bediensteter nicht nur mein Bediensteter war. "Ich glaube Euch gut genug zu kennen, um zu wissen, dass Ihr Euch nicht unklug verhalten werdet. Möge Euer Aufenthalt bei uns Euch die Ruhe bringen, die Ihr sucht. Wir werden uns wiedersehen." Damit war ich entlassen. Ich verneigte mich noch einmal und ging.

Wieder gingen die Monde ins Land und bald war es ein Jahr, dass ich mich in Caswallon aufhielt. Ich war dem Rat der Vora gefolgt und hatte verschiedene Einladungen zu Festlichkeiten und Gastmählern angenommen. Von Adikema und jenen Clanthern, die mit ihr in der Stadt weilten, hatte ich mich ferngehalten. Ich hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass ich mit Clanthon nichts mehr zu tun hatte und von ihnen nichts wissen wollte.
Doch in Caswallon verblasst der Ruf des Neuen schnell. Nachdem ich mich nie dazu herabgelassen hatte, die Abendunterhaltung mit Geschichten oder Geschichtchen zu würzen, sondern alle Fragen nach den letzten Monden meines Lebens mit höflichem Schweigen beantwortete, ließ man mich bald in Ruhe. Ich las viel, unternahm auch lange Ausritte und pflegte den Garten des Hauses. Nur die Harfe, ein Geschenk des dankbaren Monetas, der an meinem Gold wohl tüchtig verdient hatte, rührte ich nicht an. Ich hatte sie freundlich entgegengenommen und ihm gedankt, aber seitdem stand sie unberührt in einem Winkel. Meine große Harfe lag zerschmettert in den Trümmern meines Hauses am Strand von Descaer. Eine andere auch nur zu stimmen, wäre mir wie Verrat erschienen.

Ein Tag reihte sich an den anderen und wieder war es Winter geworden. Ich blieb die meiste Zeit im Haus, trank Unmengen ao-laischen Tees und starrte stundenlang in die Flammen des Kamins. Wieder neigte sich ein Tag der Nacht zu und ich dachte daran, aufzustehen und früher als gewöhnlich mein Bett aufzusuchen, als Vosco mit meinem Abendessen eintrat. Normaler Weise war dies Rimas Aufgabe und Vosco wirkte verstört. "Guter Vosco, was ist? Ist Rima krank?" Ich hatte sie den ganzen Tag husten gehört.
"Sehr freundlich, dass Ihr nach ihr fragt, Frau Crysalgira. Ja, sie liegt darnieder mit hohem Fieber. Der Physikus war bei ihr, doch seine Mittel haben nicht geholfen."
So viele Worte auf einmal hatte er noch selten zu mir gesagt! Die Sache war also wirklich ernst.
"Vosco, ich verstehe mich ein wenig auf die Heilkunst." Wahrscheinlich wusste er das sowieso schon.
"Darf ich nach ihr sehen? Vielleicht kann ich ja helfen." Schon war er am Gang draußen.
Ich hatte die Zimmer des Ehepaares noch nie betreten. Alles war hübsch ordentlich, gediegen, aber nicht verschwenderisch ausgestattet. Bleicher noch als die blütenweißen Laken lag Rima in ihren Kissen. Sie hatte doch Fieber, hatte Vosco gesagt! Wieso war sie dann so blass, um der Götter willen? Ein Verband um ihren Arm löste das Rätsel. Der verdammte Physikus! War ihm nichts anderes eingefallen, als sie zur Ader zu lassen!? Ich fühlte ihren Puls. Schwach, viel zu schwach, aber er jagte. Ihr Atem ging pfeifend und ihre Augen waren ganz verschleiert. Lungenfieber.
"Vosco, wir brauchen heißes Wasser, viel heißes Wasser. Und verschiedene Kräuter. Minze, Salbei, Thymian und Lindenblüten. Wenn nichts davon im Haus ist, so hole sie. Und beeile dich!" Ich wusste, dass wir nicht alle Kräuter im Hause hatten. Manche davon wurden in der caswallonischen Küche angewandt, aber Lindenblüten bestimmt nicht. Doch ich brauchte einen Vorwand, um Vosco für einige Zeit aus dem Zimmer zu schicken - weit weg. Er eilte davon.
Ich starrte auf meine Hände. So lange hatte ich meine zauberische Kraft nicht mehr eingesetzt! Konnte ich es überhaupt noch? War noch genug Magie in mir verblieben, um der armen Rima zu helfen? Tee und Aufgüsse alleine würden nicht reichen. "Sinna!" flüsterte ich. "Hilf mir, große Mutter! Diese Hände konnten einst heilen, nicht nur töten." Dann ließ ich mich in Rimas Fieber sinken.
Voscos Rückkehr riss mich aus meiner Versunkenheit. Rimas Wangen hatten etwas Farbe, ihr Atem ging ruhig und ihre Augen strahlten mich an. Ich lächelte. Schnell stand ich auf, stellte Schalen mit dampfend heißem Wasser neben ihre Bettstatt und warf je eine Handvoll Salbei hinein. Die anderen drei Kräuter ergaben einen heilenden Tee, versüßt mit einem großen Löffel Bienenhonig. Rima trank drei Tassen, dann schlief sie ruhig ein.
Ich winkte Vosco zur Türe. "Es wäre gut, wenn du sie weiter Dampf einatmen lässt. Sollte sie aufwachen, so gib ihr von dem Tee. Und wenn du selbst müde wirst, dann zögere nicht, mich zu holen. Ich werde gerne bei ihr wachen, so wie sie mich behütet hat, als ich zu euch kam." Dankbar nickte er und ich ging in mein Schlafgemach.
Am nächsten Morgen weckte er mich mit einem erleicherten Lächeln. "Guten Morgen, edle Frau! Rima ist schon wieder recht wohl, ich kann sie nur mit Mühe im Bett halten."
Ich nahm ihm das Tablett mit meinem Frühstück ab. "Und du? Hast du auch nur ein Auge zugetan?"
Schweigen. "Das dachte ich mir. Ich kleide mich an und gehe zu Rima, ich kann auch bei ihr frühstücken. Und du gehst jetzt ins Bett!"

Ein paar Tage später war Rima vollständig genesen. Und ich machte mich auf den Weg zum Tempel der Airdhust, wie die Große Mutter hier genannt wurde. Es war nicht einfach gewesen, mitten im Winter einen Korb mit frischen Früchten aufzutreiben, aber diese Opfergabe sollte meinen Dank ausdrücken. Geschlagen wie ich war, heimatlos, ohne Freunde, die Zukunft ungewiss - ich war immer noch ich selbst. Ich hatte es vielleicht vergessen gehabt, aber unser aller Herrin nicht. Mehr als nur Rimas Lungenfieber war in jener Nacht geheilt worden.


Wieder vergingen die Tage. Die Mittwinternacht verbrachte ich im Haus der Vora, mit unzähligen anderen Gästen. Sie winkte mir von ferne zu, kümmerte sich aber nicht weiter um mich. Und mir war es Recht.
Hin und wieder bat Rima mich um Hilfe, wenn eine ihrer Freundinnen oder deren Kinder erkrankten, wie es in einem strengen Winter nun einmal vorkommt. Ich tat das Gleiche, was ich bei ihr gemacht hatte. Unter einem Vorwand schickte ich die Leute aus dem Zimmer, auch wenn mir manches Mal fast nichts mehr einfiel, was ich noch brauchen konnte. Zumindest meine Kräuterteemischung hatte schon fast jeder! Für gewöhnlich interessierte es mich nicht einmal, ob die Frauen und Kinder arm oder reich, hoch oder niedrig gestellt waren. Und wenn manches Mal kleine Gegengaben wie Blumen, Obst oder Konfekt im Haus abgegeben wurden, dann freute ich mich, bewies das doch, dass meine "Behandlung" wirksam gewesen war. Sinna hatte mich nicht verlassen und meine Magie zumindest nicht ganz.

Gegen Ende des Winters wurde es ganz schlimm. Einige Male wurde ich unsanft geweckt, weil eine verzweifelte Mutter mir ihr krankes Kind entgegenhielt. Not kennt kein Gebot und so wurde ich unvorsichtig. Ich kümmerte mich nicht mehr, ob jemand begriff, was ich wirklich tat außer Tee mischen. Ich saß nach einer durchwachten Nacht bei einem verspäteten Frühstück, als Vosco plötzlich vor mir stand. "Edle Dame, wir haben ein Problem." "Wir, Vosco?" "Ja, wir, denn Ihr habt meine Rima geheilt und viele andere auch, die ich zu meinen Freunden zähle. Jetzt redet Mario Venantio sehr, sehr gehässig von Euch. Und die daGuzzis sind mächtig ...." Wir hatten ein Problem.
"Vosco, sag mir eines, ist die Anwendung von Magie in Caswallon verboten?" Vielleicht hätte ich diese Frage schon früher stellen sollen ... Blankes Unverständnis starrte mich an! Doch Vosco hätte nicht so lange für den Caswallonischen Geheimdienst arbeiten können, wenn er nicht ziemlich helle war. "Aber Frau Crysalgira, das hat doch nichts mit Eurer Zauberei zu tun! Nein, Ihr habt ihn viel Geld gekostet, als Ihr alle unsere Freunde behandelt habt. Er ist zornig, weil er an der Wintergrippe nichts verdient hat und Ihr für Eure Behandlungen nichts verlangt! Unmoralisches Verhalten nennt er das.
Geschäftsschädigend und das ist in Caswallon ein böses Wort!"
Jetzt war es an mir, ihn unverständig anzustarren. "Aber wofür sollte ich denn etwas verlangen? Die Kräuter bezahlen sie selbst, die Arzneien bezahlen sie selbst und das heiße Wasser gehört ihnen auch! Dafür, dass ich sie besuche und auch noch Tee und Kuchen bekomme?"
"Ja."
"Nein, das kann doch nicht sein! Vosco, rate mir, was soll ich tun?"
"Ein Geldgeschenk an die Familia daGuzzi wäre nicht verkehrt. Ihr habt verabsäumt, sie nach Eurer Ankunft aufzusuchen, was ich mit Eurer Krankheit entschuldigt habe. Aber sie haben Euch auch noch nicht zu sich geladen. Das ist bedenklich! Sie erhalten von allen in diesem Viertel Geschenke. Wenn Ihr wollt, dann kümmere ich mich darum." Das war wohl auch besser so! Ein Geldgeschenk?!? Ich hätte es ihnen wahrscheinlich in den kollektiven Rachen gestopft!! Ich nickte.
"Und wenn Ihr weiter Menschen helfen wollt, dann werdet Ihr auch weiterhin etwas bezahlen müssen." "Nein, Vosco, das werde ich nicht tun! Ein einmaliges Geschenk, um den Physikus für eingebildete Verluste zu entschädigen, das lasse ich mir einreden. Auch ein ‚Antrittsgeschenk' an die daGuzzis entspricht noch irgendwie der Höflichkeit. Aber dann ist Schluss!" Alles in mir sträubte sich gegen diese Praktiken.
Vosco seufzte laut. "Die Vora hat persönlich mit Euch gesprochen. Niemand wird etwas gegen Euch unternehmen, zumindest nicht offen. Aber ich warne Euch, das Leben hier könnte sehr unangenehm werden, wenn Ihr Euch nicht an die Spielregeln haltet." Und so war es auch.

Eines Abends kehrte ich in ein völlig verwüstetes Haus zurück. Vosco und Rima waren an diesem Abend ebenfalls nicht zu Hause gewesen. "Einbrecher! Bitte seht doch nach, ob Euch etwas fehlt." Nein, es fehlte nichts, und das war doch sehr, sehr seltsam. Einbrecher, die nichts stahlen, sondern nur großen Schaden anrichteten? Aber niemand schien auch nur daran denken zu wollen, dass es noch andere Möglichkeiten gab als gemeine Diebe ... Viele meiner neuen Bekannten im Viertel drückten mir ihr Bedauern aus, doch Einladungen zu ihren Gesellschaften in den umliegenden Häusern wurden schlagartig weniger.

Ein paar Tage später hatte jemand des Nachts meine kostbaren Rosenbeete im Garten zerstört, wieder in meiner Abwesenheit. Und Rabenfell stand mit wild rollenden Augen und Schaum vor dem Maul in seinem Verschlag. Ich untersuchte ihn, aber ihm schien nichts zu fehlen. Wahrscheinlich hatte sich der große Hengst tapfer gewehrt.
Vosco bat mich dringend, ihm zu gestatten, ein paar Bewaffnete zu bezahlen. Es waren rauhe Gesellen, mit Halbmasken vor ihren Gesichtern, die kein Wort mit mir sprachen. Am Tag standen sie vor dem Tor, des Nachts lagen sie auf Matten in der Eingangshalle. Ich kam mir vor wie im Belagerungszustand, aber mein Haus blieb von da an verschont.

Keiner meiner Bekannten wagte es mehr, mich offen am Tag aufzusuchen, auch nicht, um mich um Hilfe zu bitten. Das war deutlich. Niemand glaubte, dass die Fremde diesen stillen Krieg gewinnen konnte, und es war besser, nicht mit oder bei mir gesehen zu werden. So sehr gefreut hatte ich mich über die kleinen Geschenke, aber nun wurde alles, das im Haus für mich abgegeben wurde, einer gründlichen Prüfung unterzogen. Ob ich die Tempel besuchte, ob ich an Festlichkeiten teilnahm, ob ich einfach über den Markt ging und einkaufte, ich ertappte mich immer wieder dabei, wie ich jedes Wort, das an mich gerichtet wurde, jeden Blick, den mir jemand zuwarf, abwog. Selbst in der Grotte der Airdhust, diesem Ort des Friedens, fühlte ich mich nicht mehr wirklich sicher.

Es war mir zutiefst zuwider, doch irgendwann beugte ich mich dem unsichtbaren Druck. Einen offenen Krieg mit einer Familia zu beginnen, das verstand die Vora bestimmt nicht unter ‚klugem Verhalten'...
Vosco nahm es auf sich, den Frieden wiederherzustellen. Er kehrte mit einer Einladung für den übernächsten Abend in den Palast der daGuzzis zurück. "Ihr solltet unbedingt hingehen! Dann wird jeder wissen, dass Ihr Euch an Caswallons Regeln haltet. Und wenn Ihr etwas länger hier seid, dann habt Ihr vielleicht Eure eigenes Haus begründet, und dann .... " Sein drohender Blick verhieß nichts Gutes für die daGuzzis an diesem fernen Tag. Er war mir ein treuer Diener, aber er war eben doch ein Caswallonier. Mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge wandte ich mich ab....
Am nächsten Tag unternahm ich wieder einmal einen Ritt - wahrscheinlich war dies einer der letzten schönen Tage, denn der Winter nahte. Schon wieder! Ich hielt mich nun schon mehr als zwei Jahre in Caswallon auf und, wie ich zu meiner eigenen Überraschung feststellte, es ging mir gut. Ich konnte lachen, ich konnte scherzen, ich mochte wieder mit Menschen reden. Tief in mir brannte immer noch der Schmerz, aber das Feuer war zu einem schwachen Glühen geworden.
Ich hatte begonnen, mich in dieser Stadt heimisch zu fühlen, trotz dem Ärger, der mich die letzten Monde heimgesucht hatte. Ich fand zwar immer noch keinen Geschmack am ‚Spiel der Häuser', wie Caswallons Lieblingsbeschäftigung genannt wurde, aber vielleicht konnte ich mich irgendwie arrangieren ....

Auf dem Rückweg in die Stadt kam ich an einer umgestürzten Kalesche vorbei. Leute rannten aufgeregt herum und hantierten an der Deichsel. Ein Pferd lag im Gras, vermutlich hatte es sich das Bein gebrochen. Es bewegte sich nicht mehr. Auf der Straße lag eine Frau in seltsam unnatürlicher Haltung. Unter dem Wagen drang ein Wimmern hervor. Ich hielt Rabenfell an und stieg ab.
Die Frau kannte ich doch, ich war Gast in ihrem Haus gewesen. Valentia, eine recht wohlhabende Bürgerin der Stadt. Ihr Mann war ein Geschäftspartner von Monetas. Ja, er stand dort am Wagen und rang verzweifelt die Hände. Ich trat zu ihm und sprach ihn an. "Herr Redorio, was ist geschehen? Ist noch jemand verletzt worden?" Er sah mich an. "Meine Valentia ist tot und meine Tochter liegt unter der Kalesche - ich höre sie noch weinen. Aber der Physikus dort sagt, wir dürfen den Wagen nicht bewegen, es könnte sie töten! - Ihr seid doch Dame Crysalgira, oder? Man sagt -" ein geflügeltes caswallonisches Wort - "dass Ihr über Zauberkräfte verfügt. Helft meinem Kind, ich bezahle Euch, was Ihr wollt."
Geschwind ging ich um den Wagen herum. Eine Kinderhand ragte unter der Seitenwand hervor. Ich ließ mich auf die Knie fallen und nahm sie in beide Hände. Das Mädchen lebte noch! "Hebt die Kalesche an, ich werde dafür sorgen, dass dem Kind nichts geschieht!" rief ich laut.
Redorio stritt mit dem Physikus. "Tut etwas, wenn Ihr wollt, dass sie lebt!" brüllte ich. "Wenn ihr noch einen Augenblick vertrödelt, dann braucht ihr nichts mehr zu tun!" Endlich hob sich die Seitenwand an. Ich schloss die Augen und versenkte mich in die Seele des Mädchens. Da berührte jemand meine Schulter. "Verzeiht, was ist mit Terenta? Lebt sie noch?" Mühsam kam ich wieder zu mir. "Ja, sie lebt. Beide Beine sind gebrochen und sie ist vor Schmerz ohne Bewusstsein. Das ist auch besser so. Aber mit guter Pflege kann sie ganz wiederhergestellt werden. Hebt sie vorsichtig auf eine Trage." Das Mädchen wurde geborgen und der dankbare Redorio half mir auf die Beine. Neben der Trage mit dem Kind gingen wir langsam auf die Stadt zu. Da trat mir plötzlich der Physikus in den Weg. "Das Mädchen lag mit dem Rückgrat auf einem Stein. Eigentlich müsste sie tot sein."
Erst jetzt sah ich ihn genauer an. Oh nein, das war mein alter Freund Mario Venantio, der, wegen dem dieser ganze Ärger begonnen hatte! Ausgerechnet! Eine leise Stimme tief in mir riet mir zur Vorsicht, aber ich war erschöpft und ich war wütend.
"Macht Ihr mir etwa zum Vorwurf, dass sie noch lebt? Ihr konntet das nicht wissen, aber wahrscheinlich habt Ihr es vermutet, und deswegen verboten, den Wagen von der Stelle zu bewegen. Ihr Tod wäre Euch angelastet worden, nicht wahr? Nun, ich habe Euch aus dieser misslichen Lage befreit. Tretet beiseite, Mann, und lasst mich heimgehen! Ihr seid wahrlich ein Feigling, ein Nichtskönner, der nichts anderes kann, als Leute zur Ader zu lassen und viel Geld zu verlangen und sich hinter einer mächtigen Familia zu verstecken. Ich sehe wirklich nicht ein, warum ich mich mit einem Lumpen wie Euch herumstreiten soll!"
Er legte die Hand an seinen Dolch. Alle Vernunft vergessend trat ich ihm entgegen. "Wollt Ihr mich auf offener Straße angreifen? Wollt Ihr endlich im Licht des Tages tun, was die letzten Wochen im Verborgenen geschah? Ich warne Euch, ich bin nicht ganz schutzlos!"
Herr Redorio und die Männer um ihn sahen einander entsetzt an. Ich hatte ein weiteres ungeschriebenes Gesetz Caswallons gebrochen, indem ich die Anschläge auf mein Hab und Gut Angriffe nannte statt ‚Missgeschicke' und sie einer Familia zuschrieb, ohne die Macht über sie oder auch nur die Möglichkeit zu haben, diese Anschuldigungen zu untermauern. Begütigend versuchte er, auf den Physikus einzureden. "Bitte, steckt doch Euren Dolch weg! Diese Dame hat meine Tochter gerettet und ist davon völlig erschöpft, sie wollte Euch sicher nicht beleidigen und die ehrenwerte Familia schon gar nicht. Nicht wahr, Dame Crysalgira, das wolltet Ihr nicht?" Aber ich schwieg.
Der Physikus ließ seinen Dolch verschwinden und wich zurück. "Das wird Euch teuer zu stehen kommen, Fremde! Ihr werdet keine ruhige Stunde mehr haben!"
Er sollte Recht behalten.

Vosco begüßte mich am Tor des Hauses mit der Nachricht, dass meine Einladung zu den daGuzzis zurückgezogen worden war. Sie hatten sogar mein ‚Antrittsgeschenk' bis auf die letzte Gräte zurückgesandt. Und eine Rose, welche mit einem schwarzen Band umwickelt war. "Was Ihr getan habt, war zweifellos sehr menschlich, edle Dame. Aber jetzt habt Ihr großen Ärger, größeren, als Ihr Euch vielleicht vorstellen könnt. Ihr habt die daGuzzis beleidigt, auf offener Straße, vor Zeugen. Diese Wogen vermag ich nicht mehr zu glätten! Ihr seid so gut wie tot, es ist nur eine Frage der Zeit." Er war ganz bekümmert. "Ich weiß wirklich nicht, wie ich Euch noch helfen kann. Vielleicht solltet Ihr den Schutz der Vora anrufen, sie bitten, Euch eine Weile in der Burg wohnen zu lassen, aber auch dies ist eine gefährliche Angelegenheit ... Ihr wärt ihr dann sehr verpflichtet." "Nein, Vosco, das werde ich bestimmt nicht tun. Wäre ich eine Bürgerin Caswallons, dann würde ich vielleicht so handeln, aber dann wäre ich auch nicht in diese Lage gekommen, nicht wahr?" Er nickte. "Ich glaube, für mich ist es an der Zeit, weiterzuziehen. Ich will nicht undankbar sein, mein Freund, die Stadt hat mir auch viel Gutes erwiesen. Aber um wirklich hier leben zu können, müsste ich mich euren Sitten anpassen und ich fürchte, das kann ich nicht. Das konnte ich noch nie!" Ich lachte schallend.

Der nächste Sonnenaufgang fand mich schon auf der Straße hinaus aus dem Kessel von Caswallon.


Zweite Etappe


Zeit: Wolfsmond des Jahres 38 n.d.F.
Ort:  am Stadtrand von Kreopolis

Die trübe Sonne war längst untergegangen, es wurde schneidend kalt. Ich fror erbärmlich, wahrscheinlich stieg das Fieber schon wieder. Vor fünf Tagen war ich in einen so heftigen Schneesturm geraten, dass mir nichts anderes übriggeblieben war, als im dürftigen Schutz einer Baumgruppe anzuhalten und abzuwarten, dass er vorüberging. Meine Hoffnung war vergebens gewesen. Er hatte die ganze Nacht hindurch gestürmt und erst in der Morgendämmerung nachgelassen. Ich war nass bis auf die Knochen gewesen, mein Gepäck völlig durchweicht und der Weg nicht mehr zu erkennen. Natürlich hatte ich mich dann verirrt. Mehr als ein kurzes: "Folgt einfach der Straße, wenn Ihr ans Meer wollt!" hatte ich ohnehin nicht zu hören bekommen, wenn ich einen Einheimischen nach dem Weg fragte. Und wie soll man einer Straße folgen, die nicht mehr da ist?!

Der Wirt in der letzten Herberge hatte mir angeboten, für mich Begleiter unter seinen "Gästen" anzuheuern. "Für die entsprechende Summe bringen sie Euch überall hin!" Ohja, und am ehesten unter die Erde Chryseias! Ich hatte dankend abgelehnt, mit dem Hinweis, dass ich kaum genug Geld hatte, um die Mahlzeit und das Futter für meinen Hengst zu bezahlen. Dann hatte ich bei Rabenfell im Stall geschlafen. Es schien mir sicherer zu sein.
Inzwischen hätte der große Hengst eher den Namen "Dreckfell" verdient, aber ich hatte ihm ausführlich erklärt, warum seine Reiterin ihn so vernachlässigte. "Wenn du aussiehst wie ein alter Klepper, wird dich niemand stehlen wollen!" Er hatte mich nur böse angeschaut. Der Vergleich schien ihm nicht zu gefallen. Er war zwar ein ausnehmend kluges Tier, aber von Tarnung verstand er nichts.

Die langen in Caswallon verbrachten Monde hatten mich ganz schön weich werden lassen, das merkte ich bald nach meinem Aufbruch. Zum Teufel! Zwei Jahre in einem bequemen Bett und in der ersten Woche meiner Reise spürte ich jeden Knochen im Leib. Zudem war ich zu Winterbeginn aufgebrochen, jener Jahreszeit, wo der vernünftige Reisende sich eigentlich eine feste Bleibe suchen sollte. Aber wann war ich schon jemals vernünftig gewesen, wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt hatte?
Ich hatte Caswallon mit wenig mehr verlassen, als ich bei meiner Ankunft bei mir gehabt hatte.
Proviant, Wäsche zum Wechseln, einige Beutel mit caswallonischen Münzen. So weit ich wusste, wurden sie überall als Zahlungsmittel akzeptiert.
Ich hatte auch ein Ziel, einen Ort, an dem meine Vergangenheit mich wohl nicht mehr einholen würde, aber erstens hatte ich es nicht eilig dorthin zu kommen und zweitens musste ich mir erst überlegen, wie ich das anstellen sollte. Der kürzeste Weg hätte durch Clanthon und über die See geführt. In Descaer legten früher oft Schiffe an, die in die Hafenstädte der Chryseia fuhren. Schließlich war ich so selbst schon bequem gereist. Doch dieser Weg war mir versperrt. Ich musste durch das Gebiet Tir Thuathas und durch Albyon ziehen. Die Aussicht auf diese Reise bereitete mir ein wenig Kopfschmerzen, aber schließlich herrschte ja "Frieden". Wieder stieg bei dem Gedanken der altvertraute Schmerz in mir hoch, aber nun konnte ich wenigstens die Lage zu meinen Gunsten nutzen. Wenn ich die großen Städte mied und mich nirgendwo länger als unbedingt nötig aufhielt, würde schon alles gut gehen.

Es war auch gut gegangen, einigermaßen. In den Tagen, als ich die Brocendias durchquerte, die in tiefer Winterruhe lag, war ein seltsamer Frieden über mich gekommen. Eine kleine Lichtung im Wald hatte es mir besonders angetan ... eigenartiges Licht drang durch die entlaubten Bäume, als hätte ich die unsichtbare Grenze zur Jenseitswelt überquert. "Dies ist ein guter Platz zum Ausruhen", hatte ich zu Rabenfell gesagt. "Vielleicht sollten wir hierbleiben und ein wenig schlafen?" Aber Rabenfell hatte nur geschnaubt und war zügig weitergetrabt.
Kaum hatte ich die Grenze nach Chryseia überquert, hatte mich dieser elende Schneesturm überrascht. Mit Müh und Not hatte ich es bis nach Ikoneum und dort auf einen Fischkutter geschafft. Mein Vorrat an Münzen war beträchtlich geschrumpft, der Kapitän hatte sich die Überfahrt teuer bezahlen lassen. Ich hatte trotz meiner Schwäche kein Auge zugetan. Ganz geheuer war mir die Mannschaft dieses Seelenverkäufers nicht gewesen!
Und jetzt lag Kreopolis vor mir, die geheimnisvolle Stadt der Diebe, Gaukler und Mythanen am Meer. So sehr war ich nach den langen Wochen des Unterwegsseins dem Lied der Reise verhaftet, dass ich mir erst ins Gedächtnis zurückrufen musste, dass das hier mein Ziel war und was ich eigentlich hier wollte. Meine alte Freundin Arsinoé besuchen. Was sollte ich ihr sagen? Nichts? Alles?

Unbemerkt war ich in der Stadt angekommen. Kein Wächter, der mich aufhielt, kein Beamter, der irgendwelche Dokumente sehen wollte.
Als ich Arsinoé das letzte Mal aufgesucht hatte, war ich auch im Hafen gelandet, mit meinem eigenen Schiff, denn anders ist Kreopolis ja nicht zu erreichen. Damals hatte die Ausschiffung bedeutend länger gedauert. Aber von hier sollte ich den Weg zu ihrem Haus ganz leicht wiederfinden.

Inzwischen war es tiefe Nacht, aber in dem Stadtviertel merkte man nicht viel davon. Licht, Lärm und tausend Gerüche drangen aus den Tavernen, Fackeln und Kohlenfeuer brannten an Straßenecken und Häuserwänden, eine bunte Menschenmenge strömte durch die engen Gassen. Ich führte Rabenfell am Zügel, reiten war in dem Gedränge unmöglich. Da! Das war die richtige Häuserfront.
Der riesenhafte Türwächter betrachtete mich mit seinem eigentümlichen Lächeln. Ich wusste, dass er nicht ganz richtig im Kopf war, ein ehemaliger Ringer, der wohl irgendwann einen Schlag zu viel kassiert hatte. Aber er war treu wie ein Wachhund. "Bitte, sage der Kyria Arsinoé, dass eine alte Freundin sie gerne sprechen möchte. Mein Name ist Crys."
Immer noch lächelnd wandte er sich um. "Lily!" brüllte er. "Da ist eine Frau, welche die Herrin sehen will!"
Wenige Augenblicke später erschien die Gerufene. Sie riss die Augen auf und trat ganz nah an mich heran. "Grä..., ähhhh, ich wollte sagen gnädige Dame .... wie schön, dass Ihr uns wieder einmal besucht, bitte, kommt doch rasch herein! Roxos wird sich um Euer Pferd kümmern." Sie führte mich in ein kleines, luxuriös ausgestattetes Gemach, Arsinoé hatte es ihren Empfangssalon genannt. "Bitte, nehmt doch von dem Wein dort auf der Anrichte, ich hole Arsinoé. Aber es kann etwas dauern, wir haben heute illustre Gäste."
Einen Becher ausgezeichneten Weißen in der Hand ließ ich mich auf das mit rotem Samt überzogene Ruhebett sinken. Ich war so verdreckt, dass ich Arsinoé wahrscheinlich einen neuen Überzug würde spendieren müssen, aber das war mir in diesem Augenblick egal.

Als ich viele Stunden später wieder erwachte, lag ich frisch gewaschen, aber nackt, wie ich in diese Welt gekommen war, zwischen nach Rosen duftenden Laken. Ich versuchte, mich aufzurichten, und die Welt drehte sich um mich.
"Bleibt liegen, Crys! Ihr seid krank, Euer Fieber war so hoch, dass Ihr in Bewusstlosigkeit gefallen seid. Roxos hat Euch in meine Gemächer getragen und meine Mädchen haben Euch gewaschen. Jetzt müsst Ihr erst einmal diese Arznei schlucken!" Sie half mir, mich aufzusetzen und führte mir einen Becher an die Lippen. Durstig trank ich.
"Arsinoé, meine liebe Freundin!" Meine Stimme klang, als ob ein Rabe krächzte. "Wie lange habe ich geschlafen?"
"Einen Tag und eine Nacht. Wir befürchteten schon das Schlimmste! Wie seid Ihr in diesen Zustand gekommen, wo ist Eure Eskorte? Ist Euch ein Unglück widerfahren?"
"Teuerste, das ist eine sehr lange Geschichte. Ich will Eure Zeit nicht übermäßig beanspruchen, wenn ich schon Eure Gastfreundschaft so mißbrauchen muss."
"Die Mädchen sollen uns etwas zu essen bringen und dann müsst Ihr mir alles erzählen. Ich lasse Euch heute ohnehin nicht aus diesem Bett." Sie lächelte, aber ich wusste, wenn Kyria Arsinoé in diesem Tonfall sprach, war jeder Widerstand zwecklos.

Viele Stunden später erhob meine alte Freundin sich und sagte: "Das lange Sprechen hat Euch ermüdet, ich sehe es Euch an. Und ich muss mich um meine Abendgäste kümmern, das Haus ist voll, wie immer .... zu viel zu tun und kaum eine Hilfe. Lily ist ein liebes Mädchen, aber ihre Talente liegen auf ganz bestimmten Gebieten ..." Sie grinste. "Als Hausdame ist sie eigentlich eine Verschwendung."

Ein paar Tage später war ich genesen. Bei jedem anderen wäre es wohl schneller gegangen, aber Heiler können sich nicht selbst heilen ... da ist alle Magie vergebens, wie jeder Zauberkundige weiß.
Und in der erzwungenen Untätigkeit war mir ein Gedanke gekommen. Gewiss, er war verrückt, aber er hatte auch seine eigene Logik. Ich wollte Arsinoé anbieten, als ihre Hausdame für sie zu arbeiten. Ich konnte singen, ich konnte tanzen, ich konnte sehr wohl Gäste unterhalten. Ich konnte Getränkemischungen aus aller Völker Länder zubereiten und ich konnte mit mehr als nur fünf Sinnen aufpassen, dass den Bewohnern des Hauses nichts Unrechtes widerfuhr. Es war für sie also kein schlechtes Geschäft.
Und für mich? Außer ihr und Lilea wusste niemand, wer ich war und woher ich kam. Und es interessierte hier auch niemanden. Und niemand, der die stolze Markgräfin von Descaer gekannt hatte, würde sie in einem Haus wie diesem vermuten, nicht unter denen, die dort ihren Dienst versahen. Hier konnte ich meine Vergangenheit abstreifen. Und im Gelächter, im Gesang und in dem fröhlichen Trubel, der hier Tag und Nacht herrschte, würde ich mein Lachen wiederfinden. Dies war kein Ort, an dem man lange traurig sein konnte!
Zu Arsinoés Lob sei gesagt, dass sie nicht einmal besonders überrascht war, als ich ihr meinen Vorschlag unterbreitete. Ein Haus wie das Elysion zu führen bedingt große Menschenkenntnis und Toleranz, die Fähigkeit, sich mit hoch und niedrig gleichermaßen zu verständigen, und eine große Liebe zum Leben.
Als ich ihr meine Geschichte erzählt hatte, da hatte sie nicht geurteilt, nicht hinterfragt und nicht versucht, meinen Sinn zu wandeln. Sie nahm mich, wie ich war.

Und bis zum heutigen Tag möchte ich keinen Augenblick missen, den ich im Elysion verbracht habe! Wer auch immer etwas über Magira erfahren möchte, über die Völker und Sitten, dem sei ein Jahr Lehrzeit in jenem Haus in Kreopolis empfohlen. Wesen aus aller Herren Länder gingen aus und ein. Walis in ihren Fellen, wo ich Lilea, Orchida und die anderen Mädchen herzlich bedauerte, stolze Krieger aus dem Reich des Feuers mit scheppernden Rüstungen - legten sie die eigentlich ab, wenn sie sich den Freuden der Kammer hingaben?!, schweigsame, verhüllte Qun in ihren Seidengewändern, edle Caswallonier, deren besondere Wünsche kaum zu befriedigen waren.

Eines schönen Abends kam ein ganz besonderes Wesen an. Hochgewachsen, schlank, in weißer Gewandung, mit roten Augen und spitzen Ohrmuscheln. Ich war mir ganz sicher, dass er kein Mensch war. Unser Besucher kam aus dem Reich der Naturgeister.
Irgendwann seufzte Arsinoé: "Eigentlich bin ich recht froh, dass wir selten Wesen wie diesen Anthardes zu Gast haben. Meine armen Mädchen und Jungs wären bald arbeitslos!" Ich konnte nicht anders, ich musste kichern. Wohl wahr. Orchida hatte mir haarklein berichtet, was dieser Anthardes so erzählt hatte. Er war ein Dryad und Wesen seiner Art waren mit einem unersättlichen Appetit ausgestattet, aber nicht auf Nahrungsmittel ....

Eines Abends, es war noch recht früh, stand ich am langen Tresen in der Haupthalle, welche geselligen Abendunterhaltungen vorbehalten war, und polierte die wunderschönen Kristallkelche auf Hochglanz. Eigentlich gehörte das nicht zu meinen mit Arsinoé vereinbarten Tätigkeiten, aber es war eine Arbeit, die ich gerne tat. Es hatte etwas unheimlich Beruhigendes und ich konnte den großen Raum gut überblicken.
Anthardes trat ein, sah mich und kam zu mir. "Ihr seid mir ein Rätsel, mein Augenstern!" sprach er mich an. Ich zog die Brauen hoch. "Augenstern? Womit hab ich das denn verdient, edler Gast?" Langsam wanderte sein Blick von meiner Stirne bis zu meinen Zehen in ihren Riemchensandalen. Ich trug die im Elysion übliche Arbeitskleidung, ein wenig Nichts an strategischen Stellen, aber von ausgesuchter Qualität. "Und wieso bin ich Euch ein Rätsel?" "Nun, ich habe noch nicht bemerkt, dass Ihr an den ‚Unterhaltungen' teilnehmt, obwohl Ihr mindestens so begehrenswert seid wie die anderen reizenden Geschöpfe dieses Hauses. Würdet Ihr zustimmen, wenn ich Euch frage, ob Ihr den heutigen Abend mit mir verbringt?"
Diese eine Frage wurde mir immer wieder gestellt und meistens tat ich sie mit einem freundlichen Lachen und einem Scherz ab. Dieses Mal nicht. Denn Anthardes wusste vielleicht etwas, das mich interessierte. "Es kommt ganz darauf an, welche Art von Unterhaltung Ihr im Sinn habt, Kyrie! Wenn Ihr mir von Eurer fernen Heimat berichten wollt, so will ich Euch gerne lauschen."
"Ihr seid wirklich die seltsamste Blume in diesem Garten! Lilea, Orchida, Violetta, Paeonia ... sie sind zart und anschmiegsam und Ihr, Ihr seid eine stachelige Chrysantheme!" Verblüfft starrte ich ihn an. Dann prustete ich los, dass mir die Tränen über die Wangen liefen. Die Blicke aller Anwesenden richteten sich neugierig auf uns. Mühsam beruhigte ich mich wieder.
"Habe ich Euch also zum Lachen gebracht, mein Augenstern? Dann schuldet Ihr mir Eure Gesellschaft! Wir wollen uns mit einer Karaffe guten Weins an den Teich des Gartens setzen und uns näher kennenlernen."

Anthardes beschrieb mir das Land der Naturgeister und die vielen wunderbaren Geschöpfe, die dort lebten. Einiges wusste ich bereits, aber das ließ ich mir nicht anmerken. Endlich ergab sich die Gelegenheit, jene Frage zu stellen, die mir auf der Zunge brannte, seit er das Elysion betreten hatte. "Leben denn auch Menschen in Eurem herrlichen Reich oder ist es ihnen verboten?" "Nein, es ist nicht verboten. Alle jene, die guten Herzens sind, sind uns willkommen, alle Streiter des Lichts. Und seit wenigen Jahren gibt es sogar eine größere Ansiedlung, Neu-Descaer." Er warf mir einen merkwürdigen Seitenblick zu.
"Ich bin nicht ganz ungebildet, Kyrie!" beruhigte ich ihn. "Ich weiß, wo Descaer liegt, das Descaer der alten Welt. Es ist gar nicht weit von hier, ein paar Tage Schiffsreise ... Früher hatten wir oft Gäste von dort, vor dem Krieg." Das war nicht einmal gelogen. "Erzählt doch weiter, wie leben diese Menschen bei Euch?"
"Nun, ihre Ansiedlung liegt ganz in der Nähe von Titania, der großen Handelsstadt in Form einer Lotusblüte ...." Anthardes erzählte so lebhaft, dass ich die kleinen Häuser, die wohlgeordneten Gärtchen, die blühenden Felder und die spielenden Kinder beinahe vor meinen Augen sehen konnte. Seine sanfte Stimme zog mich in ihren Bann. "Ich wüßte zu gerne, ob Mirana und Siegmund schon Kinder haben", seufzte ich. "Das war Miranas größter Wunsch." "Sie haben eine kleine Tochter und sie haben das Mädchen Crysalia genannt, nach der Markgräfin, aber alle nennen sie nur Crys ..." Er sprang auf.
"Ich habe mich also doch nicht geirrt! Crys ... aber nicht wie in Chrysantheme, sondern wie in Crysalgira! Ihr seid keine einfache Blume aus der Welt der Freuden, die zur Hausdame aufgestiegen ist und sich darauf beschränken kann, Gläser zu polieren, Ihr seid die ehemalige Gräfin von Descaer, die Freundin der Naturgeister. Wenn ich Euch zu nahe getreten bin, tut es mir Leid, aber ich war der Ansicht, ich hätte mich getäuscht, als ich glaubte, Euer Gesicht zu erkennen. Eure Anwesenheit hier kam etwas ... unerwartet. Uns ist wohl bewusst, dass Crysalgira nicht mehr in Descaer regiert, Tashira vom Hohen Freyhof hat Euren Platz als Botschafterin von Clanthon eingenommen, auf Eure Bitte hin, wie sie versicherte. Sie konnte oder wollte uns nicht sagen, wohin Ihr verschwunden seid, ob Ihr überhaupt noch lebt.
Wisst Ihr, wie verzweifelt Eure ehemaligen Untertanen versucht haben, Nachricht über Euren Verbleib zu erhalten? Ihr seid vielleicht der Ansicht, es stehe mir nicht zu, diese Frage zu stellen, aber ich bin kein Mensch und muss nicht handeln und denken wie ein Mensch. Warum habt Ihr Euch nicht den Euren angeschlossen und lebt bei uns, wie sie? In allen Ehren?"
"Wenn Ihr mit ‚allen Ehren' den unnützen Pomp und Prunk meint, der Wesen von Stand gemeinhin umgibt, nun, so lasst Euch sagen, dass ich ihn nicht brauche. Meine eigene Ehre ist mir genug und sie ist ungebrochen. Auch ein Leben hier im Elysion kann daran nichts ändern. Außerdem tut Ihr diesem Haus Unrecht."
"Das war nicht meine Absicht und so habe ich es auch nicht gemeint. Was steht es einem adeligen Nymph zu, über die Lebensumstände einer Adeligen im selbst gewählten Exil zu urteilen. Die seltsamen Regeln der Menschen, mit ihren Floskeln und ihrem künstlich freundlichen Umgang miteinander kann ein Nymph nicht nachvollziehen und sie gelten daher auch nicht für ihn. Aber es kann doch nicht der Sinn Eures weiteren Lebens sein, hier Kristall zu putzen! So kenne ich die Menschen doch nicht! So viele von ihnen streben nach Ehren und Anerkennung, nach Macht und Reichtum...nach Erfüllung. Gewiss, Ihr seid anders, sonst wäret Ihr keine Freundin meines Volkes, aber seid Ihr wahrlich so anders?"
Ich stand auf. Es war eindeutig Zeit, das Gespräch zu beenden. Der Dryad stellte mir Fragen, auf die ich keine Antworten hatte.
"Anthardes, ich glaube gerne, dass Menschen für Wesen wie Euch fremd sind und ihre Handlungen nicht immer sinnvoll erscheinen. Ich danke Euch dafür, dass Ihr mir Nachricht gegeben habt von Leuten, die in meinem Herzen wohnen. Und wenn Ihr heimkehrt, so könnt Ihr ihnen sagen, wenn Ihr das tun wollt, dass Ihr mich gesehen und gesprochen habt, dass ich lebe und dass es mir wohlergeht. Aber sie sollen nicht länger nach mir suchen lassen. Ich bin nicht mehr ihre Herrin, bin nicht mehr für ihr Wohl und Wehe verantwortlich, auch wenn mir ihr Andenken lieb und teuer ist. Das liegt hinter mir, wie so viele andere Dinge auch. -
Und jetzt müsst Ihr mich entschuldigen, ich habe Pflichten, denen ich mich widmen muss." Ich rannte beinahe davon. Blind vor Tränen stürzte ich in meine Kammer und warf mich auf mein Bett.

Nach unserem Gespräch blieb Anthardes nicht mehr lange unser Gast. Scheinbar hatte sich an seinem Verhalten nichts geändert, er lachte und scherzte mit den Mädchen, mit den anderen Gästen. Doch manches Mal trafen sich unsere Blicke und immer war ich es, die als erste die Augen senkte. Ich schämte mich nicht für das, was ich war und was ich tat, oh nein! Aber den stummen Fragen in seinem Gesicht wollte, konnte ich mich nicht stellen. Kurz, bevor er unser Haus verließ, sprach er mich doch noch einmal an.
"Ich habe Euch verletzt, Augenstern. Das wollte ich nicht. Vergebt mir! Ich hoffe, wir sehen uns eines Tages wieder - Ihr habt eine Heimat, auch wenn Ihr es im Augenblick nicht wahrhaben wollt!" Dann ging er, bevor ich antworten konnte. Ich hätte auch nicht gewusst, was ich darauf hätte sagen sollen.

Die Monde vergingen. Das Leben in Kreopolis gefiel mir eigentlich ganz gut, es war zumindest immer was los. Doch seit meiner Unterhaltung mit diesem Naturgeist lag ein Schatten über mir. Eine Traurigkeit, die mich selbst mitten in einer lauten Abendgesellschaft in der Haupthalle des Elysion überfiel.
Arsinoé merkte dies wohl. Aber noch nicht einmal ihr wollte oder vielmehr konnte ich sagen, was mich bedrückte. Ich wusste es ja selbst nicht genau.
Eines Nachmittags im Einhornmond saß ich im Garten und las eine Schriftrolle, die ich ein paar Tage zuvor von einem wandernden Händler erstanden hatte. Angeblich war sie uralt, zumindest gab der Autor vor, seine Quelle sei ein Bericht, der aus der Zeit vor der Finsternis stammte. Nun ja. Dass Kreopolis früher einmal eine Stadt der Mythanen gewesen war, hatte ich schon gewusst. Dass sich in der Burg immer noch geheimnisvolle Dinge ereigneten, wusste jeder, der sich länger als ein paar Tage in der Stadt aufhielt. Doch es war besser, sich nicht zu sehr um diese Dinge zu kümmern ....
Plötzlich wurde es draußen vor dem Tor laut. Eine Männerstimme schrie irgend etwas. Roxos' tiefer Bass antwortete. Ich sollte besser nachsehen, bevor der Krach noch Arsinoé aufweckte. Die Götter allein mochten wissen, zu welcher Morgenstunde sie endlich ihr Bett gefunden hatte!
Lilea und Orchida standen im langen Gang vor dem Eingangstor. Ihrer Aufmachung nach waren sie auch noch nicht sehr lange wieder unter den Lebenden. Ich bedeutete ihnen, wieder ins Bett zu gehen. Was immer es war, ich würde mich schon darum kümmern.
Da wurde das Tor aufgerissen. Roxos stützte mit einem Arm einen Mann, der am Ende seiner Kräfte schien. "Er ließ sich nicht abweisen, Crys, er sagt, er sucht hier seine Herrin, eine Dame aus Clanthon! Ich habe ihm gesagt, dass von dort jetzt niemand da ist, aber er wollte mir nicht glauben. Und dann fiel er mir einfach in die Arme ..." Roxos war offensichtlich überfordert.
"Bring ihn in das Empfangszimmer und geh wieder vors Tor, bitte. Ich werde mit ihm sprechen."
Da hob der Mann den Kopf und sagte. "So habe ich Euch endlich gefunden, Frau Crysalgira!" Es war Konrad von Moorland, der an Roxos' Arm hing wie eine Gliederpuppe.

Wieder nahm Arsinoés roter Samtbezug schweren Schaden. Konrad war in noch schlimmerem Zustand, als ich es bei meiner Ankunft gewesen war. Ich bot ihm einen Becher Wein an. Durstig trank er und starrte mich danach mit wirrem Blick an.
"Was führt Euch hierher, Konrad, mein Freund? Warum habt Ihr mich gesucht? Und wie habt Ihr mich gefunden?"
"Wie? Ich war erst in Caswallon, nur wenige Tage nach Eurer Abreise. Ich gab mich als Euer Gefolgsmann zu erkennen. Niemand konnte oder wollte mir sagen, wohin Ihr verschwunden wart und was Euch vertrieben hatte. Durch langes Fragen bekam ich heraus, welche Straße Ihr genommen hattet, ein gewisser Vosco hat es mir endlich gesagt,. In jedem Dorf, in jedem Gasthaus habe ich nach Euch gefragt, habe Euch beschrieben und auch Rabenfell. Und erwähnt, dass Ihr caswallonisches Geld bei Euch habt. Endlich erfuhr ich von einer Herbergsmutter, dass Ihr nach Albyon wolltet und weiter in die Chryseia.
In Ikoneum bin ich durch sämtliche Hafenspelunken gezogen, bis ich endlich den Kapitän fand, der Euch nach Kreopolis gebracht hat. Ich bitte Euch, gebt mir noch ein wenig Wein. Die Fahrt hierher hat mich meine letzten Münzen gekostet ..."
Ich füllte seinen Becher nach. "Konrad, Konrad, warum nur? Warum habt Ihr diese beschwerliche Reise auf Euch genommen? Was wollt Ihr, dass ich für Euch tue?"
Schweigend trank er, dieses Mal etwas langsamer. Dann flüsterte er: "Kommt mit mir zurück, kommt endlich heim!"
"Konrad, das will ich nicht und das kann ich nicht. Ich dachte, von allen Menschen hättet gerade Ihr verstanden, warum ich so und nicht anders handeln konnte. Descaer ist nicht länger meine Heimat, ich schulde Clanthon keine Treue mehr. Ich bin auch niemandes Herrin mehr und will es nicht mehr sein. Es herrscht Frieden auf Ageniron. Zumindest das wurde erreicht. Aber der Preis war zu hoch. Ein jeder mag mit seinem Gewissen abmachen, ob er diesen Preis bezahlen will. Für mich war er zu hoch."
Mühsam richtete er sich auf. Ich war mir nicht sicher, ob er auch nur ein Wort verstanden hatte außer meiner Weigerung. Nichts anderes schien ihn zu interessieren. Das war nicht der Konrad, den ich kannte. "Dann habe ich hier nichts mehr zu suchen." In seinen Augen stand eine so große Trostlosigkeit, dass sie mir schier den Atem abschnürte. "Ich habe Euch gedient, so gut ich es vermochte, durch alle Wirren und Kämpfe. Ich bin Euch gefolgt wie ein treuer Hund, weil Ihr für mich Ehre und Treue verkörpert habt. Wenn Ihr nicht länger meine Herrin sein wollt ..." Er verstummte und stand auf. Seine Bewegungen waren unnatürlich, ruckartig, wie bei einem, der unter einem Zauberbann liegt. Plötzlich zog er seinen Dolch. "Dann sterbt!"
Abwehrend riss ich die Hände empor und wich zurück. "Konrad, nein!" Sein Messer traf nur meinen linken Arm und hinterließ einen blutenden Schnitt. Mit der Rechten packte ich seine Hand und hielt sie fest. "Konrad, was tut Ihr? Seht mich wenigstens an, wenn Ihr mich töten wollt!"
Jähes Begreifen huschte über seine Züge. Er ließ das Messer fallen, tat ein, zwei wankende Schritte und brach zusammen. Ich fiel mit ihm zu Boden, hart auf den verwundeten Arm. Reißender Schmerz durchzuckte mich und halb betäubt blieb ich liegen. Ich hörte noch ein leises Flüstern. "Vergebt mir, meine geliebte Herrin, ich wollte das nicht tun!" Einen Herzschlag später seufzte er tief. Als ich in seine Augen sah, war kein Leben mehr in ihnen.

Mit einem lauten Knall schlug die Türe des Zimmers an die Wand. Roxos stand mit seinem Prügel bewaffnet im Eingang. Als er mich am Boden sitzen sah, ließ er ihn fallen und half mir auf. "Ist er tot?" fragte Lily leise.
"Ja, auch wenn ich nicht weiß, warum. Ihr wisst, dass ich keine Waffe habe, und ich kann auch keine Wunde an ihm sehen."
Roxos hob den toten Konrad hoch. "Der war doch schon tot, als er hier bei der Türe reinkam", murmelte er.
Lilea und ich sahen uns an. "Wie hast du das jetzt gemeint?" fragte das Mädchen. "Ich kenne die Sorte. Keine Hoffnung mehr im Herzen, kein Leben in der Seele ..." Roxos, der ehemalige Schläger, als Menschenkenner ....
"Roxos, finde mir einen halbwegs ehrlichen Kapitän unter deinen Freunden im Hafen. Ich will, dass seine Leiche heim gebracht wird, nach Descaer. Egal, was es kostet, ich werde es bezahlen. Er stammte aus einer alten und angesehenen Familie und soll an der Seite seiner Väter ruhen. Er hat Clanthon einst gut gedient. Was immer ihn dazu getrieben haben mag, mich mit einer Waffe anzugreifen - ich weiß es nicht und will es gar nicht wissen.
Lily, hilf mir bitte meinen Arm zu verbinden. Und dann geh und entschuldige mich bei Arsinoé, ich werde heute auf meinem Zimmer bleiben, es sei denn, sie braucht mich."

In der Stille meiner Kammer ließ ich mich auf mein Bett sinken. Konrad von Moorland war tot. Starb er an gebrochenem Herzen? An etwas anderem? Er würde sein Geheimnis mit ins Grab nehmen. War gar ich schuld an seinem Tod? Viele, viele Monde hatten wir gemeinsam verbracht, hatten gemeinsam gekämpft, gemeinsam gelacht und gemeinsam um die getrauert, die gefallen waren. Clanthon hatte seine Treue gegolten, Clanthon und Descaer. Und wohl auch mir. Hatte ich ihm seinen Glauben genommen, jenen Glauben, ohne den ein Mensch wie er nicht leben kann? Hatte ich ihn verraten, ihn verlassen, als ich Clanthon verlassen hatte? Hatte ich ihn getötet, so sicher, als hätte ich ihm ein Messer in die Brust gerammt?

Irgendwann am nächsten Tag kam Arsinoé zu mir. "Dein Freund ist auf dem Weg nach Hause. Jemand, der mir einen Gefallen schuldet, hat mir sein Wort gegeben, ihn sicher nach Descaer zu bringen. Wie geht es deinem Arm?"
Ich winkte ab. Die Verletzung war nicht schlimm gewesen.
"Er hatte wenig mehr bei sich als das, was er auf dem Leib trug. Nur einen Bogen mit silbernem Griff, den er vor dem Tor abgelegt hatte, aber keine Pfeile."
"Meinen Bogen!" brach es aus mir heraus. "Er hat die ganze Zeit meinen Bogen mit sich geschleppt ..." "Möchtest du darüber reden?" fragte Arsinoé.
Ich konnte nur noch den Kopf schütteln. Da ließ sie mich wieder allein.

Ich versuchte, mein gewohntes Leben wieder aufzunehmen. Aber es war mir unmöglich. Alles Lachen, alle Leichtigkeit hatte mich verlassen. Ich konnte nicht mehr schlafen, mochte nichts mehr essen. Dann kam der Husten, ein quälender bitterer Husten, der stärker war als alle Arzneien. Ich versank immer mehr in Schweigen. Arsinoé und die Mädchen waren geduldig und freundlich, aber das fröhliche Lachen der Menschen tat mir weh. Jemand wie ich hatte im Elysion keinen Platz mehr.

Wenn ich die Augen schloss, sah ich Konrads Gesicht vor mir. Und immer öfter dachte ich an jenen unwirklichen Augenblick auf der Waldlichtung in der Brocendias. Ich sehnte mich nach dem Frieden, den ich dort gefühlt hatte. Dort würde ich endlich schlafen können. Einen Mond nach Konrads Tod brach ich auf, früh am Morgen, noch vor Sonnenaufgang, als alle Bewohner des Elysion schliefen. Arsinoé hatte ich einen Brief hinterlassen, zusammen mit der Summe, die ich ihr schuldete, für den Kapitän, der Konrads Leichnam an Bord genommen hatte. Es war alles, was ich besaß. Auch Rabenfell blieb im Stall zurück. Wo ich hinging, dorthin konnte er mich nicht begleiten. Nur meinen Bogen nahm ich mit.

Crysalgira, Endfassung März 2004