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Der Klein-Kämmerer von Titania

"Ohhhh, ich halte das nicht mehr aus."
Tabata lief in der Wohnstube ihrer Hütte aufgeregt auf und ab und warf immer mal wieder giftige Blicke auf ein aufwändig gearbeitetes Pergament, das inmitten von Fläschchen, Tiegeln und anderlei Gerätschaften auf dem großen Arbeitstisch lag.
"Prinzessin? Ha, die können mir gestohlen bleiben." Ungehalten steuerte sie auf den Tisch zu und nahm das Pergament mit den vielen Siegeln erneut in die Hand. "Ich habe keine Zeit für diesen Unsinn. Ich soll mich in eine Schule setzen in Neu-Descaer? Sie wollen Fortschritte beobachten? Na, denen werd' ich was husten."
Kurz entschlossen durchschritt sie das Zimmer, schob einen Stoffvorhang zur Seite und begab sich in ihr Schlafzimmer. Dort öffnete sie eine vor dem Bett stehende große, bunt bemalte Holztruhe und legte das Pergament auf einen wirr aufgeschichteten Haufen weiterer gleichartiger Schreiben.
Die Hexe warf den Deckel der Truhe achtlos zu und sah sich suchend um. "Sarkonn? Wo steckst du schon wieder, du elender Taugenichts? Ein vager Schatten verdichtete sich in der dunkelsten Ecke des Schlafzimmers. "Hm? Ich war's nicht, ehrlich."
"Jaja, das sagst du ja wohl jedes Mal." Ungnädig blickte Tabata auf den Mondkobold. "Du wirst dich nützlich machen und auf das Haus acht geben, solange ich weg bin. Kümmere dich um alles und mach keinen Unsinn."
"Ja, du kennst mich ja", erwiderte der Kobold eifrig. "Eben drum sag ich's dir ja", blaffte die Hexe zurück.
"Ahm, Tabata? Gehst du weg? Wohin gehst du? Wann kommst du wieder? Kann ich mitkommen? Wo gehen wir hin? ..."
"Ruhe ... sei ruhig." Tabata zwang sich offensichtlich zur Ruhe. "Ich brauche Abstand ... Zeit zum Nachdenken. Ich werde in die Wälder gehen und Kräuter sammeln. Dieser ganze Unfug mit Prinzessin und Etikette geht mir ganz gehörig auf die Nerven." Die weiße Hexe redete sich erneut in Rage und wurde mit jedem Satz lauter, bis sie plötzlich verstummte und den etwas eingeschüchtert dreinschauenden Kobold betrachtete.
"Ich verlasse mich auf dich, Sarkonn. Du warst bei den Empfängen dabei und weißt, wie sehr mich diese Politik und all das andere Zeug überfordert hat." Sie atmete tief durch. "Ich werde wohl einige Wochen oder so weg sein. Vielleicht besuche ich auch Freunde. Mach dir also keine Sorgen. Bis bald."
Tabata suchte sich in der Folge schnell einige Kleidungsstücke, Beutel, Tiegel und was man sonst noch so für das Kräutersammeln braucht, zusammen, und stopfte alles ungeduldig in einen Lederrucksack. Dann eilte sie nach draußen, schwang sich auf ihren Sylarian und war kurze Zeit später, einen etwas verdattert dreinblickenden Mondkobold zurücklassend, verschwunden.

Sarkonn brauchte erst einmal einige Zeit, um für sich zu verstehen, was so eben passiert war.
"Tabata war wütend ... das ist schlecht ... Die Blechmenschen haben Tabata geärgert ... das ist dumm ... Ich muss ihr Haus hüten ... das ist langweilig ...
Ich soll mich um ihre Angelegenheiten kümmern ... das ist doo ... hrm ... interessant.
Die Rittermenschen wollen Antworten auf ihre Briefe haben ... das ist ... genau das, was ich am besten kann!!!"

Sarkonn tat also, wie ihm befohlen und kümmerte sich zuerst um das Haus. Das hieß, er übergab die Verantwortung für den Kräutergarten an ein Quellmännlein, das im Brunnen hinter dem Haus lebte.
"Platschmann," bemerkte Sarkonn, "Tabata wäre sicherlich sehr böse, wenn ihr Garten in Unordnung geriete. Sie hat ausdrücklich darum gebeten, dass man auf ihre Sachen achtet. Also spute dich und mach ja nichts falsch."
"Und Tabata hat ganz sicher gesagt, ich soll mich um ihren Garten kümmern? Es ist nämlich ein sehr großer Garten, musst du wissen." Das Quellmännlein runzelte die grünlich schimmernde Stirn.
"Na, ich weiß doch, was ich gehört habe, und nun mach, was man dir aufgetragen hat, ich kann mich schließlich nicht um alles kümmern." Mit diesen Worten ließ Sarkonn den Platschmann stehen, der ein wenig unglücklich über die Felder rund um das Haus blickte.

Anschließend lief der Mondkobold in die Scheune, wo der Sylarian wohnte, wenn er Lust hatte. "Sinnfi? Wo steckst du wieder, du Taugenichts? Ich habe dir etwas von Tabata auszurichten."
"Was schreist du denn so?" Auf einem Dachbalken saß ein kleiner, junger Hauskobold und kaute auf einem Strohhalm herum. "Nun, Tabata wüßte sicher ein paar Worte zu sagen, sähe sie, wie faul du dich in der Scheune herumtreibst. Dabei sollst du doch in ihrer Abwesenheit auf das Haus achten und alles in Ordnung halten." Sarkonn seufzte theatralisch. "Ich muss sagen, ich bin sehr enttäuscht von dir. Dabei heißt es immer, die Hauskobolde wären so fleißig und zuverlässig."
"Ich bin fleißig und zuverlässig", entgegnete Sinnfi. "Zumindest fleißiger wie du, du ... du Uhu, du. Immer nachts herumtreiben und anderen anständigen Kobolden den Schlaf rauben. Ich weiß genau, warum Tabata mir die Aufsicht über das Haus übertragen hat. Also benimm dich, sonst muss ich dich leider hinauswerfen." Der Hauskobold hatte nun offensichtlich Oberwasser und gedachte dies weidlich auszunutzen.
Pflichtgemäß zerknirscht bemerkte Sarkonn: "Ja, ist ja gut, alle haben schöne Aufgaben bekommen und ich muss mich um die doofe Kiste mit den Briefen kümmern. Als ob das nicht Zeit hätte."

"Ha, ich hab's gehört, ich hab's gehört", feixte Sinnfi. "Nun ab mit dir ins Schlafzimmer und kümmer' dich um das Schreibzeugs. Ich will damit jedenfalls nichts zu schaffen haben."
Der Mondkobold drehte sich offensichtlich widerwillig um und schlurfte durch die zunehmende Dämmerung des Abends zurück ins Haus. Hierbei musste er sich natürlich sehr zusammen nehmen, um nicht laut loszulachen. Aber hier siegte dann doch seine Faulheit über den kurzen Triumph, hätte er sich bei den anderen Kobolden verraten. So ging er leise vor sich hin summend ins Schlafzimmer und öffnete dort mit großem Eifer die Schreibkramtruhe von Tabata.

"Hrm, Moine ... Moine ... denen fällt aber auch nichts anderes ein. Blabla Prinzessin hier, blabla Euer Gnaden dort. Kein Wunder, dass ein Mensch darüber fast den Verstand verliert." Sarkonn atmete durch und begann die vielen Briefe, Depeschen und Anschreiben koboldisch zu ordnen. Das hieß, er machte fünf ungefähr gleich große Haufen mit Papier und spielte dann mit sich selbst "Schnick-Schnack-Schnuck", um herauszufinden, wo die wichtigen Briefe lagen. Nachdem er diese Formalität erledigt hatte, begann er die Briefe zu lesen.
Es war einfach unglaublich, was diese Menschen alles niederschrieben. Und vor lauter "Euer Gnaden geruht" und "Wir geben uns die Ehre" war kaum zu verstehen, was diese Bahuuni überhaupt wollten. Sarkonn gab es nicht gerne zu, aber er würde wohl ein wenig Hilfe brauchen. Vor allem die Schreiben mit den "In Erwartung einer baldigen Antwort verbleiben wir ..." und so weiter waren nicht so leicht, wie der Mondkobold sich das vorgestellt hatte.
Hrm...Entscheidungen ... Petidings ... Antworten, Fragen, Antworten ..., Sarkonn schnaufte schwer. Was durfte und sollte eine Prinzessin eigentlich so entscheiden? Schwer ... sie durfte Bahuunidiener haben, die andauernd im Weg standen und dummes Zeug daher redeten. Das hatte er gelernt. Und sie durfte Blechmenschen haben, die andauernd hinter ihr her scharwänzelten. Alles in allem mußte Sarkonn aber zugeben, dass er so rein gar nicht wußte, für was eine Prinzessin gut war. Nur dass es wohl dazu geeignet war, Tabata zu ärgern.
"Hm, wer könnte sowas wissen? Hm, am besten ich frag Younani, die treibt sich eh meist in Titania herum und staubt Bücher ab. Da wird wohl auch ein Buch über Prinzessinnen dabei sein. Ja, das ist ein guter Gedanke, ich werde gleich losgehen."

"Sarkonn, du kannst nicht einfach gehen." Sinnfi hatte die kleinen Ärmchen in die Hüfte gestützt und betrachtete ihr Gegenüber streng. "Erst eine solche Unordnung machen und dann einfach abhau'n? Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen. Aufräumen!!"
Der Mondkobold seufzte vernehmlich. "Wie aufräumen?" Er sah sich demonstrativ um. "Wo ist Unordnung? Ich sehe nur Tabatas Briefe, die ich in stundenlanger aufopferungsvoller Arbeit sortiert habe. Du willst doch nicht etwa behaupten, du würdest Unordnung nicht von Ordnung unterscheiden können?"
Empört stampfte der Hauskobold auf den Boden. "Natürlich weiß ich, was Ordnung ist."
"Dann bin ich ja beruhigt", bemerkte Sarkonn und ließ Sinnfi im Wohnzimmer stehen.
Er eilte nach draußen, suchte sich einen Mondstrahl und ließ sich von diesem nach Titania tragen.

Sarkonn erreichte Titania nach einigen Nächten. Die Mondstrahlen hatten ihr Spiel mit ihm getrieben und schließlich mußte Sarkonn tatsächlich noch die letzten Wegstunden nach Titania zu Fuß zurück legen.
Dort angekommen fand er auch ziemlich schnell die große Bibliothek, die im Zentrum der Stadt gelegen ist. Merkwürdigerweise waren die Tore alle geschlossen und im Inneren des großen Gebäudes brannte kein Licht. Sarkonn mußte tatsächlich eine Weile suchen, bis er schließlich ein geöffnetes Fenster in luftiger Höhe fand. Sarkonn ließ sich nach oben tragen und kletterte ins Innere der großen Halle.
Da es zwischen den zahllosen Regalreihen voller Bücher wirklich zappenduster war, entschloss sich Sarkonn, ein wenig Mondlicht zu spenden, um seine Umgebung in bleich silbernes Licht zu tauchen.
So schlich der Kobold einige Regalreihen entlang, ohne auch nur den kleinsten Hinweis auf Younani zu finden. Schließlich entschloss sich Sarkonn, nach dem Bibliothekskobold zu rufen, um so auf sich aufmerksam zu machen.
Der Mondkobold nahm wahllos ein Buch um das andere aus den Regalen links und rechts neben sich. Er schlug die Bücher jeweils auf, schüttelte sie und rief dabei auf vollem Herzen Younanis Namen. Die Bücher, die nach Sarkonns Meinung offensichtlich leer waren, ließ er hierbei achtlos fallen.
Plötzlich griffen zwei relativ zierliche Arme aus dem Buch, das Sarkonn gerade durchgeschüttelt hatte, und fuhren ihm an den Hals. Der Mondkobold ließ vor lauter Schreck das Buch fallen und schrie vor Schreck laut auf. Von dem zu Boden fallenden Buch löste sich immer mehr der Körper von Younani, die mit wutverzerrtem Gesicht weiter am Hals des zu Tode erschreckten Mondkobolds rüttelte.
"Sag mal, bist du wahnsinnig, du mondsüchtiger Irrer?" Younani war außer sich vor Ärger.
"Los, antworte du, Terrorist, was hast du dir dabei gedacht, die Folianten über romantische Literatur in den Staub zu werfen?"
Der Mondkobold rang sichtlich nach Atem, während er versuchte, mit dem an seinem Hals hängenden Kobold das Gleichgewicht zu halten und gleichzeitig genug Luft für eine Antwort zu sammeln.
"Ich - örks, ich habbbb dichhhhhhh gesuuuuchhhhht", röchelte er.
"Was? Und dazu mußt die ganze Bibliothek in Schutt und Asche legen? Von einem Kobold hätt' ich mehr Verstand erwartet."
"Younani ... ich bekomm' keine Luuuft", krächzte Sarkonn.
"Oh, ja natürlich, obwohl das alles ganz allein deine Schuld ist, ich hoffe, das ist dir klar." Der Bibliothekskobold beruhigte sich langsam und nahm die überraschend kräftigen Hände vom Hals ihres Freundes.
"Ich hab nur umsortiert", maulte Sarkonn. "Ich weiß gar nicht, warum du dich so aufregst."
"Hm, naja, also gut, umsortiert also". Younani schaute ein wenig zweifelnd auf die achtlos fallen gelassenen Bücher hinter Sarkonn. "Kaputt gemacht hast du ja wohl nichts. - Was in Oberons Namen suchst du hier überhaupt um diese Zeit?" Younani unterdrückte ein herzhaftes Gähnen.
"Wie, um diese Zeit? Ist doch erst kaum Mitternacht. Habt ihr's immer so dunkel hier?" Sarkonn sah sich demonstrativ um.
"In der Nacht ist es nun mal dunkel und normale Leute schlafen jetzt."
"Wie? Bin ich vielleicht nicht normal?" Der Mondkobold schaute nun etwas beleidigt drein.
"Ach, du weißt genau, wie ich es meine", Younani bemühte sich immer noch ihre bleierne Müdigkeit los zu werden. "Was ist denn so wichtig, da du in die Bibliothek einbrichst, um mich zu suchen?"
"Ich bin gar nicht eingebrochen", maulte Sarkonn pikiert. "Das Fenster stand sperrangelweit offen."
"Oh, hab ich wohl vergessen zu schließen," murmelte Younani, "aber das ist jetzt auch nicht wirklich wichtig. Was also willst du von mir?"
"Du musst mir helfen", bat Sarkonn. "Ich muss wissen, was eine Prinzessin so tut und was sie darf. Ich muss für Tabata die ganzen Briefe beantworten und", Sarkonn machte eine extra lange Kunstpause. "Ich muss die Amtsgeschäfte für die Prinzessin von Moine übernehmen."
"Echt?" Younani war sofort Feuer und Flamme. "Darf ich mitmachen? Das klingt ja sehr spannend. Ich könnte ganz wichtige Schreiben machen und so."
"Schreiben? Hm, du kennst auch diese wichtig aussehenden Siegel und das ganze Zeugs?"
"Ich kann jedes Dokument und jedes Schreiben, das du mir gibst nachmachen und den Inhalt verändern, wenn dir das hilft ..." Younani grinste spitzbübisch.
"Hmm ..." Sarkonn überlegte. "Das ist durchaus sehr hilfreich und wird mir von großem Nutzen sein, aber ich weiß immer noch nicht, was eine Prinzessin macht oder darf ..."
Younani zuckte mit den Schultern. "Nun, da kann ich dir wohl auch nur das aus dem Wissen dieser Bibliothek wiedergeben, aber wenn du Hilfe mit den Aufgaben und Pflichten einer Prinzessin der Clanthonier brauchst, solltest du vielleicht Crysalgira fragen. Die kommt doch daher ..."
Der Mondkobold haute sich mit der flachen Hand auf die Stirn. "Warum bin ich da nicht vorher darauf gekommen? Sarkonn, Sarkonn ... Du lässt echt nach. Ts ts."
"Das merkst du erst jetzt?" fragte Younani unschuldig und machte grinsend einen Satz zur Seite.
"Jetzt muss ich wohl nach Neu-Descaer" murmelte Sarkonn nachdenklich, "auch das noch ... aber danke, ich werde gern auf dein Angebot zurückkommen, um einige wichtige Schreiben anzufertigen."

Zwei Mondreisen später landete Sarkonn nicht gerade sanft in Crysalgiras Rosengarten. Die Menschenfrau sprang erschrocken auf und hob die Rechte. Eine kleine blaue Flamme erschien auf ihren Fingerspitzen. Sarkonn ging auf, dass Crysalgira eigentlich eine Weiße Frau war und dass man selbige besser nicht erschrecken sollte, vor allem, wenn man mitten in ihren Prachtrosen gelandet war ...
"Crys - ich bin's, Sarkonn! Ich wünsche dir einen wunderschönen guten Abend. So sagt man doch unter euch Ba-ähhhh, Sterblichen, oder?"
"Ja, so sagt man." Crys schmunzelte. "Und jetzt komm bitte aus meinen Rosen heraus. Ich freue mich zwar, dich wiederzusehen, aber ich hätte die Büsche gerne noch etwas länger."
Wie um Crysalgiras Worte zu unterstreichen stach etwas genau in diesem Augenblick in Sarkonns Oberschenkel, was ihn zu einem Sprung aus dem Beet veranlasste. Eine ganz leise Stimme zischte zornig etwas von "rücksichtslosem Koboldgesindel, das anständige Rosenfeen nicht schlafen ließ".
Crysalgiras Lächeln wurde immer breiter. "Komm, setz dich zu mir in die Gartenlaube und erzähle, wie es dir und Tabata so ergangen ist in den letzten Monden."
"Tabata - aaaaaaaaaach, genau deswegen bin ich doch hier! Crys, ich brauche deine Hilfe. Und es tut mir leid wegen deiner Rosen, ich hoffe, ihnen ist nichts geschehen ..."
"Die Rosenfeen werden sich morgen früh schon darum kümmern und ich auch, sei unbesorgt. Lass uns lieber von Wichtigerem sprechen." Sanft legte ihm die Menschenfrau die Hand auf die Schulter. "Wieso sagst du, dass du meine Hilfe brauchst?" Sarkonn ließ sich erleichtert in die weichen Polster der Gartenbank sinken und erzählte, wie Tabata vor etlichen Tagen auf das letzte Schreiben aus Clanthon reagiert hatte und was er schon alles unternommen hatte, um ihr zu helfen. Er merkte, wie die Menschenfrau neben ihm erst leicht und dann immer stärker erzitterte.

Schließlich konnte Crysalgira sich das Lachen nicht mehr verkneifen. "Entschuldige, Sarkonn, es tut mir wirklich leid, die Sache ist viel zu ernst, um darüber zu lachen, aber wenn ich mir Younani vorstelle ..." Sie wischte sich die Lachtränen aus den Augen. Einige Augenblicke später hatte sie sich etwas beruhigt.
"Hmmm, ich weiß nicht, ob ich dir wirklich helfen kann. Weißt du, ich habe zwar einige Jahre in Clanthon gelebt, ich habe dort auch den König gesehen und den Kämmerer und die anderen ‚Rittermenschen', wie du sie nennst, ihre Damen und Burgfräulein, aber eine Prinzessin hatte Clanthon bislang nicht. Und im Grunde genommen ist das auch alles nur eitel Tand und leeres Gewäsch ... Euer Gnaden und Euer Liebden, wollten Gnädigste bitte so freundlich sein ... es dauert endlos lange, bis man wirklich erfährt, was die Leute von einem wollen! Ich habe mich, selbst als ich noch Markgräfin war - das ist so etwas wie eine Prinzessin, nur nicht für das ganze Land, sondern nur für einen Teil davon ... ich sehe schon, du verstehst nicht wirklich, was ich meine ..." Sarkonns Augen waren während Crysalgiras Rede immer größer geworden. "Es ist aber auch nicht so wichtig. Ich will sagen, dass ich mich nie so benommen habe, wie es von einer Adeligen erwartet wird, weil mir das alles zu dumm, zu umständlich und zu langweilig war. Und ich musste dafür genug Schelte einstecken, selbst von meinen Freunden ..." Crysalgira verstummte. Ihre Augen schienen für einen langen Moment in eine andere Zeit zu blicken. Dann gab sie sich einen Ruck und sprach weiter.
"Sieh mal, ich nehme an, dass von Tabata erwartet wird, dass sie, falls sie jemals wirklich nach Clanthon geht, ‚repräsentiert' - " Sie hob die Hand, als Sarkonn den Mund öffnete. "Ich erkläre es dir ja schon! Repräsentieren heißt vor allem, schön auszusehen, feine Gewänder zu tragen, Reden zu halten, die andere Leute für einen schreiben, ein wenig zu tanzen, bei festlichen Gastmählern am Kopf der Tafel zu sitzen, den Reden anderer Leute zuzuhören, die sie sicherlich auch nicht selbst geschrieben haben - mit einem Wort, sich furchtbar zu langweilen. Ich glaube nicht, dass Tabata das wirklich will oder auch nur länger als ein paar Monde aushält. Glaube mir, je höher du im Rang stehst, desto weniger Freiheit hast du, zu tun und zu lassen, was du möchtest. Jede Kleinigkeit hat ihre Vorschriften, ihr Zeremoniell - wenn man zum Beispiel einmal ausreiten möchte, muss man Begleiter mitnehmen, eine Wache, in Tabatas Fall auch noch ein paar Hofdamen, die sich dann beklagen, dass sie nicht so schnell reiten können oder doch bitte eine Sänfte nehmen möchten ..."

Jetzt hielt Sarkonn es nicht mehr aus. "Tabata kann sich also nicht einfach auf ihren Silaryan setzen und in den Wald reiten?" "Nein, das wird man ihr nicht gestatten, zumindest nicht so ohne weiteres. Und ich glaube nicht, dass sie ihren Silaryan überhaupt nach Clanthon wird mitnehmen wollen, das wäre kein Land für ein Elfenpferd. Allein die Reise dorthin ... Und auch du ... ob du dich mit ausschließlich Bahuuni und clanthonischen Holden zur Gesellschaft wirklich wohl fühlen würdest?" "Aber ich kann ja zwischendurch mal schnell nach Hause oder auf die Geisterinsel gehen, oder?"
"Ob du aus Clanthon auf die Geisterinsel kannst, das weiß ich nicht - vielleicht. Aber hierher? Weißt du eigentlich, wie weit Clanthon von hier entfernt ist? Du wärst viele, viele Nächte unterwegs ..."
Sarkonns Gesicht wurde immer länger.
"Und falls, durch ich weiß nicht, welchen Zufall, Tabata jemals regieren müsste - darauf ist sie wirklich nicht vorbereitet. Entscheidungen zu treffen, die Wohl und Wehe vieler, vieler anderer Menschen betreffen ... Selbst wenn sie sich eine Zeit lang hier in Neu-Descaer aufhielte und unsere Schule besuchte, selbst wenn sie eine Zeit lang hier unter den Clanthern und Clanthoniern lebte, selbst wenn ich ihr alles erzählte, was ich selbst jemals getan oder miterlebt habe, ich weiß nicht, ob das genügen würde. Ich wurde von Kind an für so etwas ausgebildet, aber am Ende konnte ich es doch nicht, zumindest nicht so, wie die ‚Rittermenschen' es von mir wollten ..." Wieder verstummte die Frau und schaute in die Dunkelheit hinaus.

Sarkonn schwieg auch und wartete, ob Crysalgira noch etwas sagen wollte. Da fiel ihm noch eine wichtige Frage ein und gerade setzte er dazu an, als die Ruhe von Crysalgiras Garten durch einen neuerlichen lauten Plumps erschüttert wurde.

Diesmal sprangen beide, Frau und Mondkobold, auf. Ein großer Wolf stand mitten im Garten, hechelte und wedelte freundlich mit dem Schwanz. Vor den Augen des erstaunten Mondkobolds, der den Mondstrahl wieder losließ, nach dem er sicherheitshalber getastet hatte, verwandelte sich der Wolf in einen jungen Menschen.
"Hallo Mama!" rief er.
"Dorian! Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst nicht so einfach hier hereinplatzen! Du erschreckst meine Gäste! - Verzeih meinem ungestümen Sohn, Sarkonn, manches Mal vergisst er seine gute Kinderstube!"
Sarkonn verstand zwar nicht ganz, welches Zimmer Crysalgiras Sohn gerade vergessen und was das mit der Art seines Erscheinens zu tun hatte, aber nachdem der junge Mann genauso freundlich dreinsah wie vorher der Wolf, lächelte er ihn an und sagte: "Ich bin Sarkonn, der Mondkobold. Deine Mama und ich sprechen gerade über Pola... über Poli... über wichtige Dinge."
Dorian verbeugte sich artig. "Ich bin hocherfreut, Euch wiederzusehen, mein Herr! Ihr seid doch der ständige Begleiter der hochverehrten Prinzessin von Moine, wenn ich nicht irre. Befindet sich Ihre Gnaden auch hier? Ich würde ihr gerne meine Aufwartung machen."
Erstaunt drehte sich Sarkonn zu Crysalgira um. "Du, warum spricht der so komisch?"
Crysalgira lachte schallend. "Er ko-kommt gerade aus Cla-clanthon, er lernt dort, wie man ein ‚Ri-hihihi-ttermensch' wird ..." Diesmal mochte sie sich gar nicht mehr beruhigen.
Also fragte Sarkonn stattdessen Dorian, ob er wisse, was eine Prinzessin zu tun habe - vielleicht hatte er ja gerade in Clanthon etwas darüber gehört?
Dorian sah ihn erschrocken an. "Es tut mir leid, mein Herr, aber damit kenne ich mich überhaupt nicht aus - ich bin ja schließlich auch kein Mädchen und meine Mutter war einst nur Markgräfin, nicht Königin ..."

Sarkonn machte ein trauriges Gesicht und Dorian überlegte, wie er ihm wohl helfen konnte. "Ich werde gerne meine Tante Ishri, ich meine, die Markgräfin Adsahartha von Than, fragen - sie weiß alles über Hofetikette und gutes Benehmen und solche Sachen ... In einem Mond komme ich meine Mutter wieder besuchen, dann kann ich Euch bestimmt mehr sagen!"
Crysalgira lachte nur noch mehr. Sarkonn seufzte. Sie war zwar sehr nett, aber doch nur eine Ba-ähhhhh Sterbliche. Ganz verstehen würde er die nie.
Sein Seufzen veranlasste Crysalgira dazu, ihr Lachen zu unterdrücken. "Ich muss mich schon wieder bei dir entschuldigen, Sarkonn, und auch bei dir, mein Sohn. Der Gedanke ist gar nicht so übel, aber ich weiß nicht, ob Sarkonn so lange Zeit hat. Und ich weiß auch nicht, ob das, was Ishri Tabata beibringen könnte, wirklich das ist, was man sich in Clanthon so vorstellt ..." Sie schluckte laut und vernehmlich, um nicht wieder in Gelächter auszubrechen.

Dorian hatte seine Mutter, die mit ihrem Lachen kämpfte, verwirrt angesehen. Seit sie hier bei den Naturgeistern lebte, hatte sie sich sehr verändert. Kaum mehr etwas erinnerte ihn an die vornehme, kühl-zurückhaltende und pflichtbewusste hohe Adelige, welche über eine große Markgrafschaft geherrscht hatte und deswegen oft nur wenig Zeit für ihren einzigen Sohn hatte erübrigen können. Fast schien es ihm, als hätte sie vieles vergessen, was früher ihre Tage und Monde ausgefüllt hatte. Da fiel ihm etwas ein, was Sarkonn sicher nicht wusste und die hochverehrte Prinzessin Tabata wohl ganz bestimmt erfahren musste. "Sag mal, Mama, als du noch Markgräfin warst, da hast du doch immer wieder Mitteilungen an die Descaerer veröffentlichen lassen, die hingen dann auf den Wänden des Marktamtes und auch unten im Hafen, an der Schreibstube des Hafenmeisters. Und Tante Ishri hat im letzten Mond auch wieder den Ausrufer durch die Stadt und die Mark geschickt, als es darum ging, den Heerbann für den nächsten Feldzug aufzurufen. Das ist doch sicher etwas, das eine Prinzessin zu tun hat - ihr Volk wissen zu lassen, was sie wünscht und was die Leute tun sollen."
Nachdenklich sah Crys ihren hochgewachsenen Sohn an. "Du hast also doch so einiges gelernt in den letzten Jahren." Sie wandte sich an Sarkonn. "Das, wovon mein Sohn spricht, nennt man ‚Proklamationen'. Mit Hilfe dieser Schriftstücke wenden sich die Regierenden an ihre Untertanen, um ihnen wichtige Dinge mitzuteilen. Und weil nicht alle Clanthonier, ja noch nicht einmal alle Clanthern, lesen und schreiben können, werden dann Herolde oder Ausrufer damit beauftragt, durch die Städte und Dörfer zu ziehen und diese Schriftstücke dort vorzulesen, damit auch alle den Inhalt hören können. So eine Proklamation, mit welcher ich zum Beispiel einen Gerichtstag ankündigte, lautete ungefähr so:
‚Im Namen des Königs! Ich, Crysalgira, Markgräfin von Descaer, tue Meinem Volk kund und zu wissen, dass der nächste Hohe Gerichtstag am Tag der Frühlingstag- und Nachtgleiche in Meiner Stadt Descaer abgehalten wird. Ein jeglicher Bürger, welcher Klagen oder Bitten vorzubringen hat, über welche der Hohen Gerichtsbarkeit das Urteil zusteht, möge dafür Sorge tragen, dass die Kanzlei der Markgräfin bis spätestens drei Tage vor dem Gerichtstag Kenntnis über zu führende Klagen und einzubringende Bitten habe, sowie bis längstens zum Tage selbst sich in der Stadt Descaer einzufinden und alle seiner Sache dienlichen Beweise sowie Zeugnisse mündlicher oder schriftlicher Art mit sich zu führen. Gegeben am so und so vielten Tage des so und so vielten Mondes im so und so vielten Jahre unseres Königs ..." Crysalgira verstummte.
Sarkonn starrte sie an. Das klang nach wichtigen Schriftstücken mit vielen bunten Siegeln drauf! So etwas musste Younani gemeint haben und scheinbar war das in der Welt der Ba-ähmmm, der Sterblichen und der Rittermenschen wirklich wichtig.
Crys seufzte innerlich. Jetzt hatte sie den armen Sarkonn wohl vollends verstört. Eine Möglichkeit blieb ihr noch, um diese schwierigen Fragen, die so gar nicht in die Welt der Naturgeister passen wollten und die sie für immer hinter sich gelassen zu haben glaubte, vielleicht doch noch zu lösen.
"Sarkonn, sag Tabata bitte, sie ist mir herzlich willkommen, jederzeit. Ich biete ihr gerne jede Hilfe an, die ich ihr geben kann, und die Clanthonier und Clanthern, welche hier leben, wären hocherfreut über ihren Besuch."
"Nun, du hast mir schon sehr geholfen. Sie soll also resaprentieren und ein Etikett haben und Progalmationen machen - das werde ich mir merken. Und Dorian erfährt ja vielleicht auch etwas von dieser Mar- Mark- seiner Tante. Vielen Dank und bis bald, ich komme wieder, wenn ich noch ein paar Fragen habe."
Flugs griff er sich den letzten Strahl des Mondlichts und entschwand.

Copyright © 2007 by Vanyar, Sarkonn, Crysalgira