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Haben Bäume ein Herz? "Haben Bäume ein Herz?" fragte der kleine Junge und sah seine ältere Schwester erwartungsvoll an. "Das ist eine gute Frage." antwortete das Mädchen. Eigentlich konnte man nicht mehr von einem Mädchen sprechen. 'Junge Frau' wäre zutreffender. Der Krieg und die Flucht hatten sie schneller altern lassen. "Früher hätte ich gewiß 'nein' geantwortet. Doch heute weiß ich es nicht so genau. Hier in Titania ist vieles anders, wie auch im gesamten Reich der Naturgeister." fügte sie schließlich hinzu Annemarie wußte, daß es nun kaum mehr möglich war, ihren kleinen Bruder zum Weitergehen zu bewegen. Wie immer, wenn sie nach Titania kamen, verbrachte Walther Stunden um Stunden am Baumtor. Und stets stellte er dieselbe Frage: Haben Bäume ein Herz? Annemarie hatte schon viele Male nachgedacht, doch noch immer konnte sie dem Jungen keine Antwort geben. Wieviel einfacher war es doch gewesen, als Mutter und Vater noch da waren. Sie hatten die meiste Zeit eine Antwort. Das Herz wurde ihr schwer, als ihr der schmerzliche Verlust wieder einmal bewußt wurde. Nur noch sie und Walther waren von ihrer Familie übrig. Mutter, Vater, ihr älterer Bruder Reinhold und ihre ältere Schwester Margot waren im Krieg mit Albyon gefallen. Sie hatten sich den Flüchtlingen nach Neu-Descaer angeschlossen. Clanthon zu verlassen war ein Wagnis, aber ohne ein Heim und einen Beruf hätte ihnen Hunger oder schlimmeres gedroht. So schlecht ging es ihnen jetzt nicht. Kaum zwölf Sommer alt hatte sie bei Elisabeth, der Schreinerin von Neu-Descaer, eine Lehre angetreten. So konnte sie Walther und sich ernähren. Aber häufig mußte sie feststellen, daß mehr zum Elternsein gehörte, als eine warme Mahlzeit und eine geflickte Hose. Annemarie ermahnte sich selbst, diesen trüben Gedanken zu vergessen. Sie war dreizehn Sommer alt, ein ordentliches Lehrmädchen und sie würde wie immer die Aufträge ihrer Meisterin zur vollsten Zufriedenheit erfüllen. überdies würde sie dem kleinen Walther, der gerade sechs Sommer alt war, zwar keine Mutter sein können, aber doch eine verantwortungsvolle große Schwester. Schließlich tat sie das übliche. Sie bat eine der Wachen auf den Zinnen, ein Auge auf Walther zu haben, wenn er am Baumtor bliebe, während sie in Titania ihren Geschäften nachging. Die diensthabende Wache war eine Waldelfe, die Annemarie versprach, auf den Jungen zu achten. Walther hörte kaum noch die Ermahnungen seiner älteren Schwester, doch recht höflich zu der Waldelfe zu sein und ihr nicht zur Last zur fallen. So sehr war er bereits in den Anblick der beiden Bäume vertieft. Er war sich sicher, daß ihre Blätter den Himmel berühren konnten und ihre Wurzeln bis in die Erdfeuer reichten. Aber nicht sicher war er, ob sie denn ein Herz hätten. Immerhin konnte er schon erkennen, daß es eine Sommerlinde und eine Ulme waren. Er hatte immer gut zugehört, wenn Fidin Jolash, ein Silberelf, nach Neu-Descaer kam, um den Kindern die Namen der Bäume und anderen Pflanzen und die der Tiere beizubringen. Er verstand auch Allanan Estrivel, die Sprache der Naturgeister, recht gut. Aber er verstand so vieles nicht, von dem er Fidin Jolash und andere Naturgeister reden hörte. Daß man höflich zu den Tieren sein müsse, daß man Bäume und vor allem das Baumtor mit Respekt behandeln sollte. Daß man nicht einfach seine Notdurft am Fluß verrichten durfte und auch nicht einen Kübel Wasser in das Schmiedefeuer gießen, obwohl das immer so wunderbar zischte und brodelte, gerade so, als wäre das Feuer wütend über das Wasser. Walther stellte mit Bedauern fest, daß er dafür wahrscheinlich noch zu jung war. Wie man vor dem Baumtor keinen Respekt haben konnte, wußte Walther nicht. Die Sommerlinde und die Ulme waren nicht die höchsten Bäume, die er je gesehen hatte, aber die schönsten und kräftigsten. Kein Grün kam dem ihren gleich. Kein Stamm war ebenmäßiger und keine Rinde lebendiger als ihre. Auch hatte er noch nie Bäume gesehen, die ihre Äste derart ineinander verschränken konnten. Und sie waren so hoch wie die weiße Stadtmauer von Titania. Der kleine dunkelhaarige Junge dachte angestrengt nach. Was hatte Fidin Jolash sie gelehrt? Wenn man etwas über Bäume erfahren will, braucht man als erstes viel Zeit, weil Bäume so alt werden. Nun, er hatte noch den ganzen Tag, bis die Sonne unterging. Er überlegte ein wenig, welchen der beiden er lieber mochte, fand aber keine Antwort. Dann kletterte die Ulme hinauf (sie hatte für seine Größe bessere Obani, wie Äste in Allanan Estrivel heißen). Vorsichtig tastend kletterte er weiter, bis er genau in den Ästen beider Bäume zu liegen kam. So konnte sich keiner benachteiligt fühlen und Walther konnte alle sehen, die Titania durch dieses Tor betraten. Michael, ein anderer Junge aus Neu-Descaer, mit dem er manchmal spielte, hatte erzählt, daß das Baumtor nicht jeden hineinläßt. Es versperre bösen Menschen den Weg nach Titania. Walther war nicht ganz davon überzeugt, daß Michael die Wahrheit sagte. Aber falls es stimmte, hoffte er auf einen eben solchen bösen Menschen, damit er alles genau beobachten konnte. Viele Wesen waren heute unterwegs und alle auf dem Weg nach Titania. Menschen aus Neu-Descaer und aus dem Land zwischen den Meeren, Seeleute aus Neu-Vesturgoi, große wilde Männer und Frauen mit braunen Gewändern. Wüstenmenschen mit langen wallenden Gewändern auf großen Tieren mit hellbraunem Fell und zwei Höckern, die Fidin Jolash Kamele nannte. Aber viel interessanter als die Menschen waren die Naturgeister. Im Vergleich zu ihnen waren die Menschen langweilig. Die sehen nämlich bis auf die unterschiedlichen Gewänder ziemlich gleich aus. Aber dort war ein Zwerg, fünf Fuß hoch, der einen gewaltigen Schmiedehammer auf der einen Schulter trug. Auf der anderen saß etwas, das wie ein brennender Strauch aussah. Tatsächlich, es brannte, Walther konnte sogar den Rauch riechen. Aber es schien den Zwerg nicht zu verbrennen, im Gegenteil, die Haut des Zwerges bekam einen warmen rötlichen Glanz wie ein Felsen im Sonnenlicht. Und der Zwerg schien sich mit dem brennenden Strauch zu unterhalten. Der Junge glaubte fast, Augen aus weißglühender Kohle im Gesicht des Strauches zu sehen. Ein kleines Männlein folgte den beiden. Es war nur drei Fuß groß und hatte braune Haut wie Ackerkrume. Hose und Hemd waren aus braunem Leinen und kaum von der Haut zu unterscheiden. Als eine Silberelfe ihn ansprach, konnte Walther ein tiefes, erdiges Lachen hören. Silberelfen gab es viele in Titania. Der Junge fragte sich oft, wer wohl das Mondlicht gesponnen und es zu ihren Haaren gemacht hatte. Bei Menschen war silbernes Haar ein Zeichen des Alters, aber bei Silberelfen nicht. Er hatte einmal ein kleines Mädchen mit spitzen Ohren gesehen, daß noch jünger war als er, aber die Haare waren genau so silbrig weiß wie bei einem alten Menschen, nur viel feiner. Walther überlegte noch, ob sie sich wohl auch wie Tau anfühlten, da entdeckte er ein bekanntes Gesicht. Fidin Jolash, der Waldläufer, ging soeben durch das Tor. Erst wollte er rufen und ihm ein fröhliches Sein wünschen (so sagt man bei Naturgeistern 'Guten Tag'), dann fiel ihm etwas auf. Der große Silberelf war in eine Art Nebel gehüllt. Nicht nur seine Haare, auch seine Haut und Gewand hatten einen silbrigen Schleier um sich. Walther schwieg und beobachtete den Elf. Dieser folgte einem kleinen Pfad, abseits der großen Straße von Titania. Einen solchen Weg hatte der Junge noch nie gesehen. Er war gewunden und verschlungen, halb überwuchert von Pflanzen und bis zur Hälfte im Nebel versunken. Schnell knüpfte Walther die Lederbänder seiner kleinen Stiefel fester und kletterte die Ulme hinab. Da er selbst kaum vier Fuß maß, war er bis zur Brust mit Nebel bedeckt. Aber der war nicht schwer oder kalt, wie Nebel oft ist, sondern anheimelnd und ganz leicht. Wenn er sich ein bißchen duckte, war er nicht mehr zu sehen. So konnte er Fidin Jolash unbemerkt folgen. Der Nebel wurde immer dichter und allmählich war es dem kleinen clanthonischen Jungen unheimlich. Man hatte zwar von den Holden nichts Böses zu erwarten, aber man mußte auch vorsichtig sein. Manches war nicht für sterbliche Augen bestimmt. Vorsorglich nahm Walther das Stirnband zur Hand, mit dem Annemarie versuchte, seinen widerspenstigen braunen Haarschopf zu bändigen und legte es halb über die Augen. Erst dann traute er sich auf die Lichtung zu schauen, an deren Rand er Fidin Jolash gefolgt war. Dort standen vielleicht zwei oder drei Dutzend Naturgeister, so genau konnte er das nicht sehen. In der Mitte stand ein kräftiger Buchenschößling, auf deren obersten Ast eine Fee saß. Ihre Flügel zeigten dasselbe ungestüme Grün wie die junge Buche. Sie war nur so groß wie Walthers Hände zusammen, aber ihre Ausstrahlung war erhaben. Er konnte kaum erkennen, wo die Fee begann und die Buche endete. Sie schienen eins zu sein. Seine Augen suchten Fidin Jolash. Nur mit viel Mühe konnte er ihn vor einer Silberweide ausmachen, die an dem kleinen See auf der gegenüberliegenden Seite der Lichtung wuchs. Auch die anderen Naturgeister waren nur schwer von den Pflanzen zu unterscheiden. Hätte Walther sie beschreiben müssen, hätte er sie als baumisch bezeichnet. Auch waren sie nicht oder kaum als einzelne Wesen zu sehen, vielmehr waren sie Teil des Waldes. Dann hörte Walther eine Stimme, von der wußte, obgleich er erst sechs Sommer alt war, daß er sie sein Leben lang nicht mehr vergessen würde. Später würde er seiner Schwester erzählen, daß er den Wald selbst hat sprechen hören, volltönend, überreichlich an Leben und sattem Grün. Er konnte nicht anders als gebannt lauschen. "Hingezogen zum regennassen Boden, verspielt gestreichelt von Tautropfen am Morgen, gewachsen in der hellen Sonne des Mittags. In den Schlaf gewiegt von einer sanften Brise des Abends. Wer wird Titania schützen?" fragte die Stimme. Walther konnte den Sprecher nicht sehen, weil ein gleißend helles Licht, heller als die Sonne seine Augen blendete. Er zog das Stoffband über die Augen und kniff sie fest zu. Er betete zum Weltenschöpfer, ihn nicht erblinden zu lassen, weil er so vermessen war, die Holden zu schauen. Der Sprecher muß genau im Licht gestanden haben, soviel konnte er gerade noch erkennen. Dann hörte er eine andere Stimme, jünger, leichter, wie Blätterrauschen im Frühlingswind. Es waren Buchenblätter, dessen war sich Walther sicher. Und er würde später jeden Eid schwören, daß die Kleinfee mit den Buchenblattflügeln gesprochen hat. "Wir sind nur wenige", sagte sie, "und nur eine Handvoll von uns sind Kinder der Erdfeuer. Dennoch sind sie es, die sich für diese Aufgabe entschieden haben. Nur ihre Herzen können sich an diesen Feuern laben und erstarken. Dorin Bergmannssohn und Andrasch Wildwasser werden über Titania wachen." Zaghaft machte Walther ein Auge auf und blickte auf die Lichtung. Er konnte immer noch nicht in das blendende Licht sehen, aber in seinem Widerschein zwei Zwerge erkennen, deren Haut mal grau, mal grün, mal blutrot schimmerte. So sieht es aus, wenn sich Erdfeuer und Erdgrün vermischen, dachte der Junge, aber er hatte weder das eine, noch das andere jemals gesehen. Die Naturgeister folgten nun dem weißen Licht, wie in einer Prozession. Und noch immer konnte Walther nicht erkennen, wer oder was sich in dem Licht befand. Allenfalls eine Silberelfe konnte er sehen, die sich am Rande des Lichtes befand. Walther fürchtete, sie würde verbrennen. Aber die Flammen konnten ihr nichts anhaben. Im Nebel verborgen folgte er den Naturgeistern, bis sie zurück nach Titania kamen. Nie kam ihm die Stadt schöner vor, reiner. Dasselbe Licht, daß ihn fast erblinden ließ, überstrahlte sanft die ganze Stadt. Titania hatte die Form einer Blüte und Walther wußte, daß sie sich soeben das erste Mal geöffnet hatte. Die Naturgeister schritten zu einem der Landtore. Sie bildeten ein Rund um die beiden Zwerge und die leuchtende Gestalt, die zwischen ihnen war. Was als nächstes geschah konnte Walther bis an das Ende seines langen Lebens kaum glauben und nur in Poesie beschreiben. Die beiden Zwerge standen ganz still da. Dann veränderten sie sich. Steinerne Haut wurde zu Borke und Rinde, Beine zu Wurzeln, Arme wurden zu Ästen. Deshalb also ist das Wort für Arme und Äste in Allanan Estrivel das gleiche, dachte Walther, der immer noch nicht glauben konnte, was er sah. Schließlich öffneten sich die Stämme der Bäume und der Junge konnte rotglühende Edelsteine sehen und blutiges Magma, welches aus den Tiefen der Erde durch die Wurzeln hinaufströmte und sich mit den Steinherzen vereinigte. Aber die Bäume verbrannten nicht. Nun waren die Stadt und das Baumtor für immer verbunden. "He, Schlafmütze, aufwachen, die Sonne geht gleich unter." Vorsichtig schüttelte Annemarie ihren kleinen Bruder, der es sich in dicken Ästen gemütlich gemacht hatte. Das Mädchen stellte fest, daß sie sich ganz warm anfühlten. Kein Wunder, daß Walther eingeschlafen war. Der Junge rieb sich die Augen. Für eine kurze Zeit schien er in weite Ferne zu blicken. Dann schaute er seine große Schwester an. Annemarie erschrak, ließ sich aber nichts anmerken. Die Augen ihres Bruders, die einstmals die Farbe von reifen Haselnüssen hatten, leuchteten in einem sanften Rot, wie sie es bei einigen Zwergen gesehen hatte. Da wußte sie, er hatte die Holden geschaut. "Haben Bäume ein Herz?" fragte Walther ein letztes Mal. "Ich weiß es nicht." antwortete Annemarie. "Aber ich weiß es jetzt." sagte Walther und lächelte. Copyright © 2001 by Finyen
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