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Die Wilde Jagd

Der lange Winter war vorbei. Endlich hatte Deschehran, der weiße Schlaf, wie ihn die Naturgeister nennen, ein Ende. Für viele war es ein ewiger Schlaf geworden. Schlimmer noch als die Naturgeister hatten die Sterblichen gelitten. Und bei allem, was die Gefolgsleute Oberons taten, so konnten sie doch nur wenigen helfen. So lastete der Tod der Unschuldigen schwer auf ihren Seelen. Denn der Deschehran ist der sanfte Schlummer, der die Natur ihre Kräfte sammeln lässt, nicht ein erstickendes Leichentuch aus Kälte, unnatürlich. Doch jetzt war es überstanden. Niemand fühlte das besser als die Boten und Beschützer der Natur.

Ybado, der Frühling, ist gekommen. Die Natur trägt ihr lockenstes Kleid; die Kraft des ewigen Erwachens aus dem Deschehran. Die ersten warmen Tage, ein Hauch von Sommer lässt sich erahnen. übermütig beweist die Natur ihren nie erlahmenden Willen zu wachsen, zu erschaffen, zu sein. Und ebenso übermütig sind ihre erstgeborenen Kinder, die Naturgeister. Heute ist ein Tag, an dem es besonders stark zu fühlen war. So dachte zumindest Droll, als er von seinem Morgenspaziergang zu Oberons Palast zurückkehrte. Die weißen Steine des Weges waren durch das Sonnenlicht in ein warmes Gelb getaucht und Lichtfunken spiegelten sich glitzernd auf den silbernen Verzierungen, die kunstfertig überall angebracht sind. Alle Türme wurden soeben mit Wimpeln und Bändern geschmückt, leuchtend und bunt. Es schien, als ob auch Oberons Burg ein Frühlingskleid anlegen wollte. Und schon lange vor dem großen Hauptportal war Musik zu hören. Der kleine Waldelf war verwundert, heute war doch gar kein Festtag? Seit seiner Ankunft auf Dewhani Estrivel vor einigen Wintern, hatte er sie selten wieder verlassen und war deshalb mit allen Feierlichkeiten vertraut. Aber heute sollte keine stattfinden. Und doch, ihm war nach Feiern zumute, nach Lachen und Springen und einer Ausgelassenheit, die er nie zuvor gefühlt hatte.

Es erging ihm nicht allein so: Keo Falkenauge, eine Jägerin aus dem Volk der Waldelfen hatte ihr bestes Gewand angezogen, obwohl es nicht gerade die Kleidung war, die man auf einem Waldspaziergang trug, wenn es über Nacht einen Frühlingsregen gegeben hatte und alles noch schlammig war. Doch die Sonne hatte schon wieder Kraft, endlich, nach diesem langen Winter, wie Keo dachte, und es würde bald trockener werden. Die schlanke, rotblonde Frau ging beschwingt mit weit ausholenden Schritten, wie sie jenen zu eigen sind, die oft und viel laufen. Hin und wieder tat sie einen kleinen Sprung, eine gewisse Verspieltheit ihrer Bewegungen war nicht zu übersehen. Tanzen wollte Keo, einen schnellen Reigen drehen, aus reiner Freude am Leben. Der lange, viel zu lange, Winter war nun vorbei. Anmutig drehte die Waldelfe sich um sich selbst und lachte dabei aus vollem Herzen. "Nun, Ihr seid aber wahrhaftig guter Laune heute morgen, Keo Falkenauge." sagte eine Stimme neben ihr. Die Frau hielt im Tanz inne und blickte suchend mit ihren grünen Augen umher.

"Hier, gleich neben Euch." Eine kleine Gestalt, kaum höher als einen Schritt, trat aus einem Holunderstrauch hervor.

"Auch Euch einen guten Morgen, Gnisseldrix. Wirklich, es ist unmöglich, einen Waldkobold zu sehen, der nicht gesehen werden will." sprach sie dann.

"So sind wir." lachte der Kobold und ergriff mit seiner knorrigen Hand die dargebotene Rechte Keos. Die Elfe konnte wieder einmal nicht umhin, ihren Freund zu bewundern. So zerbrechlich, gerade wie ein junger Strauch, der kaum das erste Mal ausgetrieben hatte; so dürr und biegsam, mehr äste als Arme, mehr Wurzeln als Füße. "Oho, Freundin Keo, Eure Gedanken stehen Euch ins Gesicht geschrieben. Habt Ihr vergessen, dass in unserer gemeinsamen Sprache, Allanan Estrivel, die Worte für Arme und äste und für Wurzeln und Füße die gleichen sind? Gewiss nicht, oder?" sagte der Waldkobold und lächelte. Die Weisheit seines Volkes sprach aus den haselnussbraunen Augen. Alle Waldkobolde sind weise, weil sie soviel Zeit damit verbringen, den Samenkörnern zu lauschen, die viele Geheimnisse bergen, wie es bei den Naturgeistern heißt. Auf Gnisseldrix traf das im Besonderen zu, sie war eine Philosophin und hatte überdies ein Geschick dafür, das richtige Wort zur richtigen Zeit zu treffen. Keo fühlte sich nun noch beschwingter, obwohl ihr das kaum möglich schien. Gnisseldrix Worte waren trefflich gewesen und vergnügt obendrein.

Der Waldkobold zupfte sein grünes Gewand und musterte dann die Elfe noch einmal. "Bei allen Nüssen, Euer bestes Kleid?" bemerkte er fröhlich und betrachtete eingehend den türkisfarbenen Stoff, den festlichen Schnitt und die hundert und aberhundert Verzierungen aus Edelsteinen, Metallen und sogar Glasstahl. Keo Falkenauges Schneiderkünste waren weithin berühmt bei den Naturgeistern. Es schien, als könne sie jedem Stoff die größtmögliche Schönheit abschmeicheln, so dass es ihn selbst freue, ein Kleidungsstück zu werden. "Mir war heut' so, Freund Gnisseldrix. Ybado ist gekommen. Sollte ich ihn nicht angemessen begrüßen?"

Gnisseldrix lächelte leise in sich hinein. Alle Vorboten schienen sich zu bewahrheiten. "Doch, doch, begrüßt den Frühling nur angemessen. Er ist es wert, findet Ihr nicht?"

"Nach diesem langen Winter mehr denn je. Ich möchte tanzen und singen und den Wind auf meinem Gesicht spüren."

"Vielleicht möchtet Ihr auch schnell wie der Wind über das Land ziehen?"

"Schneller als der Wind." lachte die Waldelfe.

"So ergeht es mir auch." sagte eine weitere Stimme. Pwyll na Gal-Taure war gekommen. Er faltete seine Schmetterlingsflügel zusammen und ließ sich auf einem Ast nieder. Die Kleinfee war kaum mehr als eine Elfenhand hoch, trotzdem war ihre Stimme tief und deutlich zu vernehmen. "So seltsam fühlte ich mich nie." bekannte er. "Es ist...", er überlegte.

"... als ob der Frühling Einzug gehalten hat in Deine Seele." beendete Gnisseldrix den Satz. "Als ob in Deinen Adern die Flüsse fließen angefüllt mit den Wassern der Schneeschmelze, in Deinen Haaren der Wind zaust, und dein Lebensfunke so heiß und hell brennt, dass es gerade noch auszuhalten ist."

"Genau so," ,sagte Pwyll , "nur viel schöner." Erstaunlich, dachte der Waldkobold, eigentlich sollte er es schwächer oder gar nicht fühlen. Laut sagte er : "Dann habt Ihr einen besonderen Grund, Euch zu freuen, Pwyll na Gal-taure. Ihr seid einer von uns, im Sinnen, im Herzen und nun auch im Sein."

Pwyll schluckte schwer. Wieviel wusste Gnisseldrix? Und hatte sie es schon jemandem erzählt? Scheinbar nein, denn sonst wäre er längst zu Oberon gerufen worden. Sie bewahrte sein Geheimnis, aber warum? Glücklicherweise hatte Keo von alledem nichts mitbekommen. Die schöne Waldelfe schien zu lauschen. "Wonach horcht Ihr?" fragten Pwyll und Gnisseldrix und im gleichen Moment hörten sie es selbst. Das feine Klingeln vieler kleiner Glöckchen. Aber es waren keine Koboldglöckchen, so wie Gnisseldrix sie an seinem Gewand trug, und die nur andere Kobolde hören können oder solche, die ein Kobold gelehrt hat, worauf zu achten sei. Es war spielerischer, gleichzeitig aber schwerer und viel kräftiger.

"Nun denn, sollte es mir gelungen sein, euch zu narren? Euch, Keo Falkenauge, deren Gehör Eurem Auge in nichts nachsteht? Und Euch, Pwyll na Gal-Taure, der Ihr sonst so aufmerksam seid? Und selbst Euch, Freund Gnisseldrix, der Ihr selbst ein Meister der Wahrnehmung seid?" Eine volltönende Frauenstimme lachte. Wie aus dem Nichts war eine Silberelfe auf einem Schimmel zwischen ihnen aufgetaucht. Sie sprang vom Rücken des Pferdes und verbeugte sich formvollendet: "Gruß Euch, meine Freunde." "Gruß Euch, Finyen del Lian." erwiderten sie. "Wie kommt es, dass Ihr zu Pferde unterwegs seid, soviel ich weiß, reiten die Wächterinnen der Wälder nicht gern." fragte Keo erstaunt. Pwyll sah ebenso verwundert aus. Davon hatte er auch schon gehört. Die Wächterinnen bezogen einen großen Teil ihrer Kraft aus der lebendigen Berührung des Landes und gingen deshalb bevorzugt zu Fuß. Außerdem war das kein gewöhnliches Pferd, sondern ein Silaryan, eines jener wilden Geschöpfe, welche die Silberelfen zuweilen reiten, wenn diese Tiere sie lassen. Es heißt, sie seien selbst Naturgeister. Ihre Hufe sind so beschaffen, dass sie wie Glöckchen klingeln, wenn sie den Boden berühren und das, sollte geist den Geschichten Glauben schenken, taten sie nicht immer. "Das stimmt, Keo, heute jedoch ist eine Ausnahme." lachte die silberhaarige Elfe und zwinkerte Gnisseldrix unmerklich zu. Die Philosophin zwinkerte ebenso verstohlen zurück. "Dann fühlt Ihr es auch, nicht wahr." bemerkte sie schließlich. "Mehr als alles andere." antwortete die Silberelfe fröhlich. "Es ist das erste Mal in dieser Welt, aber es fühlt sich genauso gut an wie immer." fügte sie hinzu.

"Besser noch, nach diesem langen Winter." entgegnete Gnisseldrix. "Ich hatte es gehofft," , sagte die Waldläuferin, "aber sicher war auch ich mir nicht." Keo und Pwyll waren nun reichlich verwirrt. Gnisseldrix und Finyen wussten scheinbar einiges mehr über die ganze Angelegenheit. Sie schienen nicht erstaunt über die seltsamen Gefühle, im Gegenteil sie freuten sich darüber. Nun, Freude empfanden Keo und Pwyll über alle Maßen. Fragend blickten sie die Silberelfe und den Waldkobold an. "Es ist die Wilde Jagd, die ihr spürt." sagte die Philosophin schließlich und sah dabei sehr alt und weise aus. "Kleidet euch geziemend! In Weiß, keine andere Farbe sollt ihr tragen; und keine Waffe bei Euch führen, nicht einmal ein Arbeits- oder Essmesser. Sodann sucht Euch ein Reittier, das Euch tragen will und kommt nach Oberonia." fügte die Waldläuferin hinzu. Ihre Stimme, klar und schön, wie die aller Silberelfen, hatte eine Nuance, die weder Keo noch Pwyll je zuvor aufgefallen war. Abgründig, tief und ehern, als hätte sie soeben ein altes Gesetz verkündet. Die Worte der beiden erfahrenen Naturgeister hatten in den Seelen der Waldelfe und der Kleinfee eine Seite angeschlagen, die ihnen gänzlich unbekannt war. Etwas Wildes und Unbändiges regte sich darin, etwas wovor geist sich hätte fürchten mögen, wenn es nicht so voller Wärme und Leben gewesen wäre. Schon stoben sie auf und davon, zu tun, was ihnen aufgetragen war.

Die Silberelfe und der Waldkobold blieben auf der Lichtung zurück. Gnisseldrix klingelte einmal mit einem der Messingglöckchen, die an seinem Gewand befestigt waren und ein großer, weißer Keiler trat schnaubend aus dem Gebüsch. "Lasst uns eilen, schließlich sollten wir mit gutem Beispiel vorangehen und uns ebenfalls geziemend kleiden." bemerkte Finyen mit spöttischem Blick auf ihr Waldläuferbraun und das haselnussfarbene Gewand von Gnisseldrix. "Auf nach Oberonia!" rief der Waldkobold und schnell wie der Wind jagten die beiden davon.

Droll überlegte indes immer noch, welcher Festtag heute sei. Er schlug die Kapuze seines grünen Umhangs zurück, um die Sonne auf seinem Gesicht zu fühlen. Wie schön das war, sanfte Wärme anstelle beißender Kälte. Er war so verzaubert , dass er erst im letzten Moment das triumphierende Ayooaah der Wolfsreiter hörte und sich gerade noch mit einem Sprung zur Seite retten konnte, ehe die übermütige Meute aus Wölfen und Elfen an ihm vorbeipreschte. Verwundert blickte der Waldläufer ihnen nach. Es war doch eher ungewöhnlich, dass der ganze Stamm nach Oberonia kam, die Wolfsreiter bevorzugten gemeinhin eher die Abgeschiedenheit ihrer Wälder.

Aber heute schien einfach alles anders. Und überhaupt fiel ihm jetzt etwas auf: Alle Wolfsreiter waren weiß gekleidet und alle Wölfe waren weiß geschmückt. Das hatte Droll allerdings noch nie erlebt. Weiß war für alle Jäger des Waldes eine ungewöhnliche Farbe. Aber er hatte noch nie einen der Wolfsreiter sie tragen sehen. Und wie er so da stand und nachdachte, sah er, dass einer der Wolfsreiter umkehrte und geradewegs auf ihn zuhielt. Er erkannte ihn sogleich: "Ayooaah, Schattenschwinge!" grüßte er. "Ayooaah, Droll!" erwiderte der braunhaarige Wolfsreiter fröhlich. "Wie geht es Dir heute? Bereit für ein paar Schandtaten?" fügte er lachend hinzu. "Das kommt darauf an." erwiderte Droll vorsichtig und musterte seinen alten Freund. Schattenschwinge war ganz in feinstes weißes Leder gekleidet, Stiefel, Hose, Hemd, sogar eine Weste hatte er an. Was Droll aber noch mehr verwunderte, war der kurze Umhang aus Feenseide, der ihn im Sonnenlicht beinahe blendete. Er wurde von einer Brosche gehalten, die eindeutig auf des Wolfsreiters Titel hinwies. Oberons Siegel war darin eingearbeitet und bekundete für alle sichtbar Schattenschwinges Adelsstand. Das Gesicht des Waldelfen schien mehr als deutlich alle Fragen auszudrücken, die zur Zeit in seinem Kopf herumspukten. Der Heiler der Wolfsreiter lachte und es klang wie eine Einladung, aber wozu?

"Heute ist ein besonderer Tag, Freund Droll. Kleidet Euch festlich, wie es sich geziemt. Solltet Ihr nichts passendes finden, wendet Euch an die Dame Titania, sie wird Euch beim Gewanden helfen." sprach er und ritt davon zum Haupttor. Nun war Droll mehr als neugierig und er rannte fast zum Tor. Als er eben durch den marmornen Torbogen schreiten wollte, hörte er das Klingeln dreierlei Glöckchen. Und obwohl die Musikanten soeben eine fröhliche Weise anschlugen, so wusste er doch genau, wer dort kam, er brauchte sich nicht einmal umzudrehen, denn die Zeit als Wächter der Wälder hatte seine Sinne geschärft.

Das eine war unverkennbar ein Silaryan, ein Windtänzer, wie diese zauberischen Pferde in Allanan Estrivel hießen. Ihre Hufe klingelten wie Glöckchen, wenn sie den Boden berührten. Dem Klang nach trug dieses einen Reiter. Das zweite waren Koboldglöckchen, denen ihr Träger erlaubt hatte, hörbar zu sein.

Das dritte aber war unverkennbar. Nur Anthardes Belnan Chiar trug solchen Schmuck. Eine Fußkette ranabarischen Vorbildes, die mit einer Vielzahl feinster Glöckchen besetzt war. Nur war diese eindeutig eine Feenarbeit aus Ilimur, dem Blausilber der Zwerge.

Dann drehte Droll sich herum um zu schauen, wer da mit Anthardes angereist sei. Er staunte nicht schlecht: Gnisseldrix, die Philosophin aus dem Volk der Waldkobolde, und Finyen del Lian, die Feldherrin der Naturgeister, begleiteten den Baumgeist. Beide in feinstes, weißes Leder gekleidet. Finyen trug obendrein ein Wams aus Feenseide und darunter ein verspieltes Hemd mit Rüschen und Bändern aus demselben Stoff. Das war doch eher ungewöhnlich für die Silberelfe. Auch Anthardes war ganz in weiß -- sonst trug er stets weiße Kleidung, die schwarze oder silberne Verzierungen aufwies. Die drei ritten oder besser tanzten mit ihren Reittieren den Palastweg hinauf. Ein Bild der Ausgelassenheit und Lebensfreude.

Die Silberelfe erhob sich halb aus dem Sattel und verbeugte sich: "Meinen Gruß Euch, Droll, und ein fröhliches Sein an diesem schönen Tag."

" Meinen Gruß Euch, Finyen del Lian, und auch Euch, Gnisseldrix und Anthardes." Der Dryade und der Waldkobold lachten und grüßten den Waldelfen herzlich. Dann ritten die drei durch das Portal. Droll wusste nun nicht mehr ein noch aus. Auch diese drei in weiß, mit Schmuck, der auf ihren jeweiligen Stand hinwies. Ebenso wie Schattenschwinge legten weder Finyen noch Anthardes wert auf ihren Adelstitel.

Droll würde nun doch einmal die Dame Titania aufsuchen, um herauszufinden, was dies für ein ungewöhnliches Fest sei. Aber er sollte von der Feenkönigin vorerst nicht mehr erfahren, als das es das bedeutendste Fest der Naturgeister ist.

Die Herrscherin der Naturgeister ließ ihm angemessene weiße Kleidung bringen und riet ihm dann, sich ein Reittier zu suchen, dass ihn tragen möge. Es war noch nicht lange her, dass er den Ruf hörte, ein Wächter der Wälder zu sein, und er verabscheute es deshalb, die Nähe zum Land zu verlieren, aber er tat, wie ihm geheißen.

Bald fand der Waldelf ein Wildpferd, einen Schimmel, der ihn tragen wollte. Dieser war zu Oberons Palast gekommen, ebenso wie viele andere Tiere. Sicherlich, die Burg lag mitten in den Wäldern, abseits von Oberonia, aber eine solche Vielzahl an Tieren war noch nie dort zu Gast gewesen. Droll sah auch viele Naturgeister, alle in weiß gekleidet, mit weißen oder weiß geschmückten Reittieren, die sich im Wald versammelten, scheinbar auf etwas wartend. Manche schienen wissend, manche nur neugierig, aber alle strahlten eine schier unbändigbare Lebenskraft aus.

Er hielt Ausschau nach bekannten Gesichtern und sah bald darauf Angehörige seines eigenen Volkes: Keo Falkenauge war gekommen, in Begleitung ihres Mannes Vanyar, des Schmieds und Chamiel an Oisins, eines weitgereisten Waldläufers. Doch auch Vanyar und Chamiel wussten nichts von einer Wilden Jagd, fühlten sich aber wahrhaftig danach zu laufen oder den Sturm zu einem Wettstreit herauszufordern. So zumindest drückte es Vanyar yil Kaylbor aus. Chamiel lächelte nur und bemerkte dann leise, dass ein solcher Kampf reichlich ungleich wäre. Der Schmied musste zugeben, dass der Waldläufer recht hatte. Trotz seiner über sechs Fuß Größe wurde er fast von seinem Pferd geschüttelt, als ein kräftiger Wind ihn packte und sein Haar zauste. Die Freunde lachten und der Wind legte sich so schnell, wie er gekommen war. Tabata, die weiße Hexe, die erst seit kurzem bei den Naturgeistern lebte, fühlte nicht, was die Kinder der Natur fühlten. Dennoch bemerkte sie, dass sich etwas verändert hatte. Sie war eine Menschenfrau, die schon immer nach den Gesetzen der Natur gelebt hatte und so viel feinfühliger war als die anderen Sterblichen. Ihre Ansichten unterschieden sich meistens von denen ihrer Brüder und Schwestern. Oberon und die Naturgeister hatten zugestimmt, dass sie in ihrem Reich leben könne. Aber so sehr Tabata auch das verkörperte, was die Naturgeister gerne bei allen Sterblichen gesehen hätten, so sehr war sie doch Mensch. Der Geist der Natur ist nicht in ihrem Sein und daher kann sie nicht ohne Hilfe in die Geisterwelt wechseln. Die weiße Hexe aber war willkommen in den Landen der Naturgeister und die Silaryan hatten sie gern. So kam es oft vor, dass einer sie begleitete und ihr das Wechseln ermöglichte.

Heute jedoch hatte Tabata anderes zu tun. Der Kräutergarten musste gepflegt werden. Wie schön es war nach dem langen Winter wieder im Garten arbeiten zu können. Alles grünte und blühte und die Menschenfrau war mit sich und der Welt im Einklang, stärker als jemals zuvor. Keinesfalls wollte sie nun fort. Aber ein äußerst hartnäckiger Silaryan, versuchte sie von der Arbeit abzuhalten. Anmutig tänzelte er zwischen den Beeten umher, stets darauf bedacht, keine Schösslinge zu zertreten. Er wieherte und stieg. Seine Hufe klingelten ausgelassen. Und ein ums andere Mal strich Tabata über sein Fell und beharrte darauf, dass sie zu arbeiten hätte. Dann zupfte er an ihrem weißen Rock oder ihrem Obergewand und die Frau streichelte ihn erneut.

Erst jetzt bemerkte sie überhaupt etwas besonderes. Die meisten Windtänzer waren weiß mit silbernen Schweif und Mähne, silbrig strahlenden Augen. Dieser hier entsprach diesem Bild nicht ganz. Ein Auge war grün wie ein Frühlingswald, das andere blau und klar wie ein Bergsee. In der Mähne spiegelten sich die Farben des Regenbogens. Das Tier blickte sie so unverwandt an, dass Tabata das Gefühl hatte, sie könnte hören, was es ihr zu sagen hatte. Komm mit, schienen seine Worte, begleite mich, heute ist ein besonderer Tag. So wischte sie sich die Hände an einem alten Lappen ab und stieg auf. Da sie eine weiße Hexe ist, trug sie ohnehin nur diese Farbe. Das bunte Tuch, welches sie in Titania gekauft hatte, wehte ihr der Wind vom Halse weg und sie schien es nicht zu bemerken. So kam auch Tabata nach Dewhani Estrivel und war noch mehr verwundert als die Naturgeister. Der Wind ging sanft mit ihr um.

Immer mehr Naturgeister versammelten sich jetzt. Die Erde erzitterte, als Erzquell, ein Berggeist, der einen Greifen ritt, landete. Mit ihm war Cendrasch Drachenschild vom Volk der Zwerge gekommen, der einen Steinbock ritt. Steinböcke sind stolze Tiere und ebenso dem Fels verhaftet wie die Zwerge. Sie verstanden sich sehr gut. Die steinerne Haut Cendraschs und Erzquells und die anderen Zwerge und Berggeschöpfe glühte hin und wieder rot auf, so dass geist sehen konnte, dass sie wahrhaftig die Kinder der Erdfeuer sind. Und noch etwas anderes geschah, dass aber nur die hören können, die selbst die Ewigkeit und Weisheit der Gebirge besitzen. Tieron del de Tugh war gekommen, ein Bergriese, der eben noch mit raumgreifenden Schritten das Land erbeben ließ und nun still verharrte: Die Herzsteine der Zwerge, sie sangen und kündeten von Neubeginn. Und immer noch schien ein zauberischer Wind zu wehen, der die Seelen der Naturgeister lockte und rief, sie mögen doch zu ihm kommen und sehen, ob sie nicht schneller seien als er. Selbst bei den sonst eher beherrschteren Völkern, wie den Silberelfen, Zwergen und Riesen, war eine Wildheit zu verspüren, die sie aufpeitschte und nicht mehr loslassen wollte.

Die Feuerkobolde, allen voran Ifgnit, ließen ihren, ohnehin leicht erregbaren Gefühlen freien Lauf. Aufbrausend und ungezügelt umtosten sie die anderen Naturgeister. Sie ritten geisterhafte Pferde, mal weiß, mal flammend, die den Boden nicht berührten, auf dass sie ihn nicht entzünden konnten. Mitten zwischen ihnen war Rubinia vom Volk der Gnome. Sie trug heute ihren Namen zurecht. Die Farben der Edelsteine ganz Dewhani Estrivels spiegelten sich in ihren Augen, als sie anmutig auf einer Gemse zwischen den Flammenpferden umhertanzte.

Der Wind nahm weiter an Kraft zu, nicht an Stärke, an Leben. Er streichelte das erste Grün, umschmeichelte Flüsse und Bäche und liebkoste die Kinder der Natur. Wo immer ein Naturgeist sich jetzt aufhielt, war er von Sturm umgeben, der sie nur noch mehr anzustacheln schien. Auch die letzten Naturgeister saßen nun auf. Ebenso unruhig wie ihre Reittiere tänzelten sie, jagten bald hierhin, bald dorthin, abwartend. Nur wenige wussten, was sie tatsächlich erwartete und ihre Vorfreude war kaum mehr zu bändigen.

Plötzlich schien es überall zu wispern und zu raunen: Die Wilde Jagd flüsterten die Blätter. Die Wilde Jagd rauschte der Fluss. Die Wilde Jagd brauste der Wind. Die Wilde Jagd hallte das Land. Die Wilde Jagd knisterte das Feuer. Die Wilde Jagd riefen die Seelen der Naturgeister. Der Sturm erhob sich nun zu seiner vollen Stärke, Blitze zuckten, Donner tobte. Das Land erbebte und der Fluss trat über die Ufer.

Dann war Stille.

In diese Stille hinein sprach eine Stimme. Es war die Stimme der Erde und des Feuers, des Wassers und des Windes; es war die Stimme des Landes, der Pflanzen und der Tiere und alles, was darauf war. Es war die Stimme der Natur selbst, und Oberon sprach mit ihr. "Die Wilde Jagd möge beginnen."

Der König der Naturgeister schien wie aus dem Nichts aufzutauchen. Musik begleitete ihn und alles, was lebte, reckte sich ihm entgegen. Er ritt einen weißen Hirsch. An seiner Seite auf einer weißen Hirschkuh war die Feenkönigin Titania. Ihre Erhabenheit und Anmut überstrahlten beinahe die Sonne, die eben golden durch die Bäume flutete.

Dahinter ritt Finyen del Lian aus dem Volk der Silberelfen. Sie trug den Prunkschild der Naturgeister, der niemals von der Zinne des höchsten Turmes von Oberons Burg entfernt worden war. Nach ihr kamen Schattenschwinge, Anthardes, Gnisseldrix und Erzquell als Bannerträger der vier großen Völker Elfen, Feen, Kobolde und Zwerge. Die Natur schien den Atem anzuhalten und mit ihr ihre erstgeborenen Kinder. Ein langgezogener Ton erscholl aus des Königs Jagdhorn. Dann sprengte die Wilde Jagd los.

Donner grollte, Blitze tosten, Regen peitschte die Naturgeister. Schon nach wenigen Herzschlägen waren sie völlig durchnässt. Die Wassertropfen auf ihrer Haut und Haaren glühten im Widerschein des Wetterleuchtens. Die Feuerkobolde, durch Oberons Zauber geschützt, zischten und prasselten und dampften. Kaum losgeprescht waren sie auch schon am Rande der Geisterinsel und mit einem gewaltigen Satz erhob sich die Wilde Jagd in die Lüfte. über das Binnenmeer stoben sie, hoch über dem Wasser, wo die Sonne golden am Himmel stand. Viele Menschen aus dem Land zwischen den Meeren und den angrenzenden Ländern schworen bei allem, was ihnen jemals etwas bedeutet hatte, dass sie einen solchen Regenbogen noch niemals geschaut hatten. Die Kinder aus Dalan ido Lhur aber, die um den Zauber der Naturgeister wissen, behaupteten steif und fest, dass der Regenbogen sich bewegt hätte und sie Gestalten darin sahen. Manche Eltern lachten darüber, andere nicht.

Schnell wie der Wind zog die weißgekleidete Schar über Berge und Täler, Seen und Wiesen. über Wälder und Moore, Haine und Auen. über die Städte der Sterblichen, über Wüste und Eis. Kaum zu erkennen waren Einzelheiten, so rasch ritten sie und so zauberisch waren sie, stets zu gleichen Teilen in der Geisterwelt und in der Welt.

Die Kinder der Natur lachten und juchzten, schrieen ihre Lebensfreude hinaus. Niemals hatten die meisten von ihnen so etwas gefühlt. Viele hatten noch keine Wilde Jagd geritten und in dieser Welt, welche die Sterblichen die Westliche nennen, war es für alle die erste. Deschehran noloberet, Ybado illiniret, so riefen sie, der Winter ist verabschiedet, der Frühling gekommen. Die Silberelfen sangen von Selina, der Hoffnung. Das Kind von Fuchshaar und Schattenschwinge war das erste, das nach dem langen Winter geboren worden war und hatte deshalb diesen Namen erhalten. Immer im Fluss war die Gemeinschaft der Naturgeister. Alle wollten gleichzeitig bei allen sein, die sie liebten, um die Jagd mit ihnen zu teilen. Die Kühnheit und Waghalsigkeit ihrer Bewegungen schien mit jedem Male zuzunehmen.

Oberon hingegen war in vollkommen in Ruhe, seine Schönheit und Glorie waren ein Leuchtfeuer für die Boten und Beschützer der Natur. Er lächelte nur. Wahrhaftig, das soll nicht heißen, dass er nicht fröhlich war und ausgelassen. Kein Naturgeist konnte es an Kunstfertigkeit der Sprünge und des Tanzes während der Jagd mit ihm aufnehmen.

Er strahlte einfach mit einem sanften Glanz, der geradewegs aus seinem Herzen zu kommen schien. Dann schien er für einen Augenblick durchscheinend zu werden, von den verspielten Winden davongetragen. Gleich darauf war jedoch wieder dort, wo er hingehörte, an die Spitze der Wilden Jagd. So war es richtig und so empfand es auch Finyen del Lian. Für heute und für alle Zeiten, so möge es sein, dachte die Silberelfe.

"Tatsächlich, meine Tochter?" Oberons Stimme war leise in ihrem Geist, belustigt, aber ohne Spott. "Wie wäre es, wenn Du die Wilde Jagd eine Weile führst? Du weißt schließlich, wo wir hinreiten wollen."

Die Wächterin der Wälder zögerte nur einen Lidschlag lang, dann begriff sie: "Folgt mir, mein König."

Mit einem gewaltigen Sprung brachte die Silberelfe ihren Silaryan vor die anderen Naturgeister, ja, sogar noch vor Oberon. Doch dann strauchelte sie und mit ihr die Boten und Beschützer. Die Wilde Jagd geriet ins Stocken. Beinahe kam es zu Unfällen. Es war eine Sache in der Wilden Jagd als Bannerträgerin zu reiten, aber es war eine ganz andere, sie zu führen. Die entfesselten Gewalten zu bändigen und zu lenken ging schier über die Kräfte der Silberelfe. Selbst mit aller Macht und unter Einsatz ihres gesamten Willens wollte ihr dieses Unterfangen nicht gelingen. Schon wurde sie schwächer.

Und abermals hörte sie Oberons Stimme in ihrem Geist: "Warum machst Du es Dir so schwer, Finyen del Lian? Du bist eine Wächterin der Wälder. Verlässt Du Dich auf Deine eigenen Kräfte allein, wenn Du dieser Aufgabe nachkommst?"

Im Gegenteil, dachte die Waldläuferin. Meine eigenen Möglichkeiten sind unbedeutend im Vergleich zu denen, die mir durch Malataya zu teil werden. Wir sind niemals allein. Eine Zeile aus einem Naturgeisterreiselied fiel ihr ein: Das Leben ist in uns und um uns so reich. Sie bemerkte kaum, dass sie leise sang.

Und ein drittes Mal hörte sie ihres Königs Stimme: "Ich sehe, Du hast verstanden, meine Tochter. Nun kann ich beruhigt an der Wilden Jagd teilhaben."

"Ja, mein König." antwortete die Silberelfe. "Sie wird nicht straucheln." Und mit einem Male waren ihre Bewegungen ein einziges Fließen. Voller Anmut und in weiten Sätzen stieg die Waldläuferin immer höher in den Himmel hinauf, und mit ihr die anderen Naturgeister. Wie einfach es doch war. Nicht Oberons alleinige Macht belebte die Wilde Jagd und so auch nicht ihre eigene. Die Kräfte der Natur in sich aufzunehmen und sanft zu lenken, sie in Bahnen zu halten, wo es nötig war, ihr freien Lauf zu lassen, wo sie wünschte und seelenvoll von den anderen Malataya Elomani zu nehmen und gleichzeitig zu geben. Das machte die Führung der Wilden Jagd aus.

Eine lange Weile flogen die Naturgeister über den Himmel, als die Silberelfe ihre Fähigkeiten erprobte. Schließlich, als sie sich ihrer Sache ganz sicher war, führte sie Wilde Jagd an jenen Ort, der stets in den tiefsten Nebeln der Geisterwelt verborgen ist. Leise hielten die Kinder der Natur an.

Es war kein Laut zu hören, bis auf ein leises Wispern. Doch war dieses nicht in den Ohren, nur in den Herzen der Naturgeister zu bemerken. "Wo sind wir?" fragten einige. "In unser aller Herzen." antworteten andere. "Am Beginn, am Ende, im Sein."

"Wir nennen es Lhur del Elomain -- Meer der Seelen." erläuterte Finyen del Lian.

"Hier ist der Ort, von dem alle Seelen stammen. Nicht nur unsere, sondern die der Pflanzen und Tiere und die aller Lebewesen dieser Welt. Wann immer ein Leben entsteht, sein Geist kommt von diesem Ort. Ein jegliches Leben, dass zur Neige geht, endet hier. Hierher reisen die Windkobolde. Sie sind die Einzigen, die diesen Ort immer betreten können. Wir anderen, selbst ich, können das nur während der Wilden Jagd." sprach Oberon. "Wisset, dass es eine besondere Aufgabe ist, die Seelen der Toten zu holen und zu begleiten. Nur die Kinder des Windes sind dazu in der Lage."

Die Windkobolde verneigten sich.

"Deshalb steht Lhur del Elomain niemals still. Der Wind ist es, der die Seelen neu erschafft. Nicht eine gleicht einer anderen. Nur bei den Kindern der Erdfeuer ist es oftmals so, dass Seelensplitter erneut zusammenkommen, weil ihre Herzsteine so fest sind. Doch auch dort ist niemals ein Verharren. So sind die Gaben gerecht verteilt."

Die Herzsteine der Zwerge glühten hier heller als an jedem anderen Ort. Viele Naturgeister bemerkten dies erst jetzt, als Oberon sie darauf aufmerksam machte. "Eines noch,", sprach der König der Naturgeister, "wir, die Boten und Beschützer haben eine besondere Gabe. Es heißt, dass während der Wilden Jagd, wenn wir an diesem Orte weilen, neue Seelen in Lhur del Elomain entstehen." Dann schwieg Oberon.

Die Kinder der Natur ritten durch das Seelenmeer. Oftmals schüttelten sie die feinen Nebeltröpfchen aus ihren Gewändern. Die Windkobolde sorgten dafür, dass nicht eines haften blieb. Und jedes mal, wenn sie ein Tröpfchen fortschüttelten, so war ihnen, als wäre ein leises Lachen zu hören. Bis auf die Hufe der Tiere, die sich im Einklang mit dem Herzschlag der Naturgeister bewegten war kein Laut zu vernehmen.

Schließlich verließen sie Lhur del Elomain. Mit weiten raumgreifenden Schritten ritten sie zurück nach Dewhani Estrivel. Und in Oberonia feierten die Naturgeister den Frühling.

Finyen
1999