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Feuer und Eis

Stille, samtene Stille herrscht im winterlichen Wald. Über Nacht ist wieder frischer Schnee gefallen und in glitzernder, weißer Pracht liegt der weiche Teppich auf Bäumen und Gesträuch. Noch haben keine Spuren den Boden beschrieben und die Sonne spielt in den Kristallen. Ein frostkalter Wind schneidet durch die Bäume und pfeift leise in dem dürren, nackten Geäst. Er wirbelt den lockeren Schnee auf und tanzt auf einer Lichtung einen rasenden Tanz. Immer schneller dreht er sich um sich selbst und gleicht dabei einem kleinen weißen Tornado. Sein Pfeifen und Zischen wird lauter und lauter während Schneewolken um ihn herstieben Beinahe unheimlich hallt das seltsame Geräusch durch den Wald. Wäre jemand in der Nähe, so hätte er wahrscheinlich rasch die Flucht ergriffen. Aber es ist niemand da, der zusehen kann was jetzt geschieht. Ein Ereignis, das nur sehr selten überhaupt stattfindet und das noch seltener beobachtet wird, die Erschaffung eines Naturgeistes.

Langsam beginnt der Schnee im Kern der Windhose feste Formen anzunehmen. Arme und ein Kopf sind zu erkennen und ab und zu fängt sich das Sonnenlicht in kristallklaren Augen. Urplötzlich erstirbt der Wirbelwind und fällt von dem Wesen in seiner Mitte ab, gibt es frei. Ein wenig schwankend steht es auf seinen schneeweißen Beinen und sieht sich um. Die Augen sind vor Erstaunen weit aufgerissen und glitzern wie Diamant. Dann, als müsse es sich erst daran erinnern, breitet sich auf dem Gesichtchen ein Lächeln aus. Es wird immer breiter bis das kleine Wesen in ein lautes Lachen ausbricht. Es ist, als würden hundert Silberglöckchen läuten , als brächten alle Eiskristalle im Wald einen Ton hervor, als begänne der Winter zu singen.

Etwas später macht sich das Wesen auf den Weg und verlässt die Lichtung nach Nor. Seine Füße hinterlassen keine Spuren auf dem frischen Schnee.

"Brrrrr, ist das kalt." hört man eine Stimme aus dem Innern eines Baumes. Und dann ertönen Geräusche, als wenn sich jemand etwas überzieht. Aus dem Baum hervor tritt ein junger Mann, schlank, hellhäutig und von graziler Gestalt. Seine sonst so geschmeidigen, nahezu lasziven Bewegungen sind wegen der Kälte zu kleinen, zitternden Trippelschritten geworden und das ehemals verführerische Gesicht schaut nun missmutig in die gleißenden Sonnenstrahlen. Anthardes ist schlecht gelaunt. Seit Wochen hat er keine Kundschaft gehabt und dann ist ihm auf einmal so kalt. Noch niemals hat er ein solches Gefühl gehabt. Vor Kälte zu zittern, so was, vor Lust ja, aber vor Kälte?! Sein eleganter seidener Morgenrock ist denkbar ungeeignet, um auch nur vor einem kühlen Hauch zu schützen und die leichten Pantoffeln lassen ihn bis zum Knöchel im Schnee versinken. Er zieht das zartgrüne Nichts von einem Morgenmantel fester um sich und reckt sich hinauf zu einem Ast, wo eine kleine rote Laterne brennt. " Warum zünde ich sie überhaupt jeden Abend an?" brummelt er vor sich hin, "Kommt ja doch niemand vorbei bei dieser lausigen Kälte, nicht mal Finyen. Und die war früher regelmäßig da." Anthardes seufzt, pustet die Laterne aus und trippelt vorsichtig zurück zum Eingang seines Baumes. Da trifft ihn mit einem "Fluff" ein Schneeball mitten ins Gesicht. "Waa..." Fluff, da trifft ihn ein zweiter. Anthardes schüttelt sich die Schneereste aus den Augen und schaut wütend um sich. Ein dritter Schneeball, der wieder auf sein Gesicht gezielt ist, fliegt einfach durch ihn hindurch.

"Wer war das, komm sofort raus!" ruft er in den stillen Winterwald, aber seine Stimme wird bald von dem weichen Schneeteppich verschluckt. Als Antwort erhält er ein silberhelles Lachen, unbedarft und fröhlich. Dann springt etwas hinter einem Baum hervor. Es ist schnell, die Sonne glitzert darauf und so schnell wie eine Windböe ist es bei ihm. Vor seinen Füßen bleibt es stehen. Anthardes sieht in ein kleines, weißes Gesicht mit großen Augen, die klar sind wie Eis. Das Wesen ist etwa drei Fuß groß und lacht von einem Ohr zum andern. Sein ganzer Körper ist weiß und bestäubt mit Schnee. Eine frostige Kälte geht von ihm aus, kälter noch als die winterliche Luft selbst. Einen Moment starren sich die beiden nur an, dann sagt das Kerlchen einfach: "Ich!". "Was, wer ... ich?" stammelt Anthardes verwirrt. "Na, ich," lacht das Wesen, "ich habe die Schneekugel geworfen. Habe ich dir weh getan?" fragt es dann, und seine Augen blicken plötzlich besorgt. "Äh, nein ... ," sagt Anthardes, "Aber wer bist du? Und vor allem, was bist du?" " Ooch!" macht das Kerlchen gekränkt, "Das weißt du nicht? Ich bin doch ein Kobold, ein Schneekobold! Oder ein Eiskobold, ganz wie du willst." Es stolziert einmal um Anthardes herum, breitet die Arme aus und meint dann:" Oder einfach ," es macht eine bedächtige Pause, " ein Winterkobold!"

Mit lautem Getöse rollt die Lawine zu Tal. Mit sich reißt sie kleine Bäume, Steine und Unmengen von Schnee. Wolken von Pulverschnee umgeben sie, als sie in rasender Fahrt auf die Talsohle zuschießt. Durch das Donnern hört man silberhelles Lachen und Kichern, als bereite irgendetwas jemandem ungemeines Vergnügen. Jauchzen und Quieken begleitet das Ungetüm bergab. Dann ergießen sich die Schneemassen wie eine Flutwelle in den Talgrund und branden am gegenüberliegenden Hang wieder hinauf. Die Woge überschlägt sich und rollt zurück, der mächtige Schwung verebbt. Ausgepumpt und erschöpft bleibt die Lawine im Tal liegen. Plötzlich ist es wieder still. Die Sonne glitzert auf der weißen Fläche. Alles ist friedlich. Irgendwo liegt eine braune Mütze.

Unvermittelt stößt etwas durch die Schneedecke. Weiß ist es und dreht sich von einer Seite zur anderen. An einer anderen Stelle erscheint ein Zweites, und ein Drittes kommt hervor. Mühelos klettern sie aus der Lawine heraus. Es sind Kobolde, Winterkobolde. Zwei von ihnen sind leuchtend weiß, der Dritte glänzt durchscheinend wie Eis. Sie waren es, die so laut lachten und jauchzten, die auf den mächtigen Schneemassen zu Tal ritten. Jetzt aber sind sie ganz ernst und aufgeregt. "He, Klirr," ruft einer der zwei Schneekobolde dem Eiskobold zu, "hast du sie gefunden?" Der schüttelt den Kopf. Dabei klirrt es tatsächlich, wie Eiszapfen, die aneinander stoßen. "In Ordnung, such' du dort drüben weiter und Flocke und ich versuchen es hier. Wir müssen uns ein bisschen beeilen, du weißt, sie halten es nicht lange aus unter all dem Schnee." Klirr nickt, nimmt ein paar Schritte Anlauf und springt kopfüber in den Schnee. Flocke hält ihren Partner jedoch zurück. "Es gibt hier in der Nähe ein Dorf, Frost," sagt sie, "ich kann die Feuer und die Menschen bis hierher riechen. Ich möchte dorthin um Hilfe zu holen, ein paar Menschen, vielleicht einen Feuerkobold. Schafft ihr es allein?" Frost schaut skeptisch, er hat Flockes Zuneigung zu den Menschen nie verstanden, aber na gut, diesmal hört es sich vernünftig an. " Gut, " sagt er," ich glaube wir schaffen es allein, es waren ja nur drei Sterbliche." Flocke nickt, stippt Frost mit dem Finger an die Nase und verschwindet als kleiner Wirbelwind das Tal hinunter. Frost sieht ihr kurz nach und stürzt sich dann kopfüber in die Lawine.

Nista steht am Fenster der Schmiedshütte und sieht mit bangem Blick nach draußen. Die Sonne steht schon sehr tief und immer noch ist nichts zu sehen von ihrem Mann und den beiden Kindern. Mit einem Seufzer dreht sie sich um. Vielleicht sind sie beim Köhler geblieben, weil es begonnen hatte zu schneien, aber seit heute morgen war keine Flocke mehr gefallen. Unruhig geht Nista im Wohnraum hin und her, öffnet die Tür zur Schmiede und geht hinein. Das Feuer in der Esse glüht nur leicht, es ist still und wirkt irgendwie verlassen. Nista muss wieder an Rodnik und die Kinder denken, die jetzt irgendwo da draußen sind. Sie geht zum Fenster und sieht wieder hinaus. So lange dauerte der Winter jetzt schon, und er war härter gewesen, als alle, die sie bis jetzt erlebt hatte. Normalerweise reichte der Kohlevorrat, den Rodnik im Herbst besorgte bis zum Frühling.. Aber in diesem Jahr war er zuende gegangen, ohne dass die Kälte auch nur ein bisschen nachließ. Deshalb war Rodnik heute mit den Kindern zur Köhlerhütte gewandert um neue Kohle zu holen.

Alle Tage schneite es neu, die Dächer ächzten unter der schweren Last und die Menschen litten unter der klirrenden Kälte. Einige Familien waren schon zusammengezogen, damit das Holz länger reichte. Langsam wurden die Vorräte knapp und wohl denen, die noch eine Rübenmiete hatten. Nun, zumindest um das Feuer mussten sie sich keine Sorgen machen. Sie geht zum Kamin hinüber. In der Asche liegt Rotglüh, der Feuerkobold mit seinem Kind Flacker, beide schlafen.

Im Sommertal ist alles andere als Sommer. Die Sonne steht schon tief und schaut nur noch halb über die Gipfel der umliegenden Berge. Kurz bevor sie begann hinter die Berge zu klettern war es ihr noch gelungen, eine Lawine loszubrechen. Jetzt bescheinen ihre letzten Strahlen den Talgrund, wo das Schneeungetüm zur Ruhe kam. In die tiefe Stille hört man plötzlich ein Pfeifen und Heulen. An einer Stelle wühlt die Schneedecke auf. Heraus fegt ein kleiner Wirbelsturm und hinterlässt ein Loch in der Lawine. Die Windhose weitet sich aus und legt nun einen Umkreis von sicherlich zehn Schritt frei. In einiger Entfernung steckt Klirr den Kopf aus dem Schnee. "Du hast sie gefunden! Großartig, Frost!" Er springt heraus und hastet in langen Sätzen auf den Wirbelsturm zu. Gleich darauf fegen zwei kleine Tornados ein großes Loch in die Schneemassen. An dessen Boden kommt etwas Dunkles zum Vorschein. Es sind drei Menschen, eng zusammengerückt und ineinander verknäuelt. Klirr und Frost hören auf, sich wie der Teufel zu drehen. Vorsichtig treten sie an die Leute heran, sie bewegen sich nicht. "Ob sie wohl schon zu lange da drin waren?" flüstert Frost. Klirr schüttelt den Kopf. "Ich glaube nicht, es war doch nur einen Moment. Aber die Kälte vertragen sie nicht." Frost schaut missbilligend auf die drei Menschen hinunter "Warum treiben sie sich denn dann draußen herum?". Klirr schubst ihn ein bisschen. " Du Pulverschneehirn, weil sie sich versorgen müssen, es sind eben Menschen!" Und bevor Frost etwas Harsches erwidern kann fragt er: "Wo ist eigentlich Flocke?" Frost sieht ihn sauer an. "Sie ist Hilfe holen gegangen, Menschen und Feuerkobolde." "Wo will sie denn hier Feuerkobolde finden?" "Sie riecht sowas." sagt Frost schlicht. "Hmm." macht Klirr. Und dann sehen sie beide hilflos das Tal hinunter in der Hoffnung, Flocke möge schnell und mit Hilfe zurückkommen.

Nista geht wieder zum Fenster. Jetzt gleich werden sie über den Hügel kommen, fröhlich, vollgepackt mit Kohlen und begierig, ins Warme zu kommen. Aber niemand kommt über den Hügel, nur die Dämmerung schleicht um das Haus. Es wird wieder kälter, Eisblumen kriechen das Fenster hinauf. Nista haucht gegen die Scheibe und reibt sich ein Guckloch frei. Als sie sich hinunterbeugt, um hindurchzusehen schreckt sie zurück. Sie hat leise aufgeschrieen. Im Kamin knistert es. Vorsichtig schaut Nista wieder durch das Loch an der Scheibe. Da klopft es von draußen. Im Halbdunkel sieht sie ein kleines, weißes Gesicht und eine Hand, die aufgeregt winkt. In der Esse ist das Feuer aufgelodert. Rotglüh steht am Rande der Kohlen und schaut angestrengt zum Fenster hinüber. dort verändern sich plötzlich die Eisblumen. Sie werden zu Bildern. Gebannt starrt Nista auf das wachsende Eis.

Beinahe geflogen ist Flocke den Weg zum Dorf. Gleich aus dem ersten Haus, das sie sieht steigt Rauch auf, ganz schwach zwar, aber genug, um zu zeigen, dass es bewohnt ist. Sie eilt von Fenster zu Fenster. Bei Oberon, irgendwo muss sie doch jemand sehen. Beim dritten Fenster hat sie Glück, da drin ist jemand. Aber sobald Flocke sich nah an das Fenster setzt beginnt es zu beschlagen. Durch die weiße Eisschicht schmilzt sich ein rundes Loch. Flocke sieht hinein und fährt dann erschrocken zurück. Keine Hand breit von ihrer Nase entfernt schaut sie in ein riesiges Gesicht. Ein Mensch, wie wunderbar, ein Mensch! Flocke überlegt fieberhaft. Wie soll sie sich bloß verständlich machen? Nein, hören kann sie das Menschenwesen bestimmt nicht. Bilder! schießt es ihr durch den Kopf, Bilder versteht man ohne Worte. Und Flocke macht sich an die Arbeit.

Vor Nistas Augen formen sich Bilder an der Scheibe. Etwas fällt herunter, wie eine große Woge, aber es ist kein Wasser, es ist ... Schnee!!! Eine Lawine! Und jetzt erkennt Nista auch das Sommertal. Bei all ihrer Aufregung bewundert sie den kleine Künstler, der da so naturgetreue Bilder an ihr Fenster malt. Unten im Tal sieht sie drei Gestalten. Eine ist groß und kräftig, die beiden anderen eher klein. Alle drei tragen etwas auf dem Rücken. Die Lawine rollt auf sie zu. Rodnik! Das ist Rodnik mit Kirsta und Alnik! Die Lawine bewegt sich sogar auf dem Fenster, sie stürzt zu Tal und begräbt die drei Figuren unter sich. "Nein!!!" Nista greift an die Scheibe, aber sie kann nichts aufhalten. Nur ihre Hände bleiben am eiskalten Fenster hängen. "Rodnik!" Unter Schluchzen versucht sie die Hände von der Scheibe wegzuziehen. Es geht nicht, sie ist zu kalt. Ihre Handflächen beginnen zu erfrieren, da kommt ihr Rotglüh zu Hilfe. Er ist aus der Esse gesprungen und bläst nun vorsichtig seinen heißen Atem an das Glas. Das Eis schmilzt sofort und Rotglüh muss aufpassen, dass nicht auch das Fensterglas anfängt zu glühen. Als Nista ihre Hände befreien kann und sie erschrocken betrachtet wirft er einen Blick nach draußen. Er schaut in das etwas betreten dreinblickende Gesicht eines Schneekoboldes.

Flocke will ihren Augen nicht trauen. Durch die Scheibe, die nun wieder ganz frei ist, sieht sie in das Gesicht eines Feuerkoboldes. Hellrot lodert sein Schopf, seine Augen leuchten wie glühende Kohlen und sein ganzer Körper flackert heiß. Er ist wunderschön, so anders und doch von ihrer Art. Auf einmal ist Flocke kalt, sie fröstelt und sehnt sich nach Wärme, nach Hitze, nach den Flammen eines Feuerkoboldes. Aber sie hat jetzt Wichtigeres zu tun. Sie zeigt aufgeregt den Hügel hinauf und winkt dem Feuermännlein mitzukommen. Rotglüh nickt und dreht sich nach Nista um. Sie ist fort, er hört sie im Wohnraum hantieren. "Flacker, bewache das Feuer!" zischelt er seinem Kinde zu und springt durch die Tür ins Wohnhaus. "Nista!" Sie hört nicht. Rotglüh knistert lauter: "Nista, hör doch!" auch jetzt beachtet sie ihn nicht. Aus einer Kiste hat sie einige Felle geholt und ist dabei sie zusammenzuschnüren. Pausenlos wiederholt sie dabei unter Tränen die Namen ihres Mannes und ihrer Kinder. "NISTA !!!" Rotglüh prasselt nun so laut er kann. Endlich dreht sie sich um. "Hol die Kohlepfanne und nimm mich mit! Wenn ihnen etwas helfen kann, dann ist es meine Wärme." Die Frau nickt. Schnell läuft sie in die Schmiede zurück. In ihrer Eile und Fahrigkeit hört Rotglüh sie einiges umstoßen, ehe sie mit der Kohlepfanne wiederkommt.

"Schau mal, sie sind schon ganz blaugefroren. Irgendetwas müssen wir doch tun können!" Klirr und Frost stehen immer noch betreten neben den drei Menschen und sehen sich von Zeit zu Zeit hilflos an." Wir könnten ihnen eine Schneehütte bauen." schlägt Frost vor, "Vielleicht wird ihnen dann wärmer." Klirr denkt einen Moment nach, dann nickt er. " Hoch im Nor, wo ich herkomme, da leben die Menschen manchmal in solchen Hütten, und sie erfrieren nicht darin." "Gut," Frost beginnt schon leicht zu wirbeln, "dann lass uns anfangen, bevor es zu spät ist." Kurz darauf fegen abermals zwei kleine Wirbelstürme durch das Tal und zwischen ihnen entsteht ein Berg aus Schnee.

"Mein Mann und meine Kinder sind von einer Lawine verschüttet worden!" keucht Nista atemlos. "Bitte, kommt mit, wir müssen ihnen helfen." In der düsteren Schenke wenden sich alle Gesichter ihr zu. Draußen ist es schon dunkel und niemand würde sich jetzt noch freiwillig hinauswagen. Aber Rodnik ist der einzige Schmied des Dorfes und der beste im Umkreis von vielen Tagesreisen noch dazu. Außerdem ist er jedermanns Freund und hat den meisten hier schon öfter geholfen. Zögernd stehen einige Männer auf. Durch die Kneipe kommt Biekort, der Wirt auf Nista zugelaufen. Er hat sich bereits einen Fellmantel umgehängt und hält eine Schaufel in der Hand. "Folgt mir," ruft er den Männern zu, "hinter dem Haus sind weitere Schaufeln." Dann greift Biekort Nista an Arm und stürmt mit ihr hinaus in die Nacht.

Es ist dunkel geworden. Ein kalter Wind fegt durch das Sommertal. Zwei Winterkobolde sitzen auf einem Schneehügel und warten ungeduldig. Frost hat vor lauter Verzweiflung und Langeweile eine Schneise in den Schnee gefegt, die das ganze Tal hinauf bis zum Eingang der Schneehütte führt. Klirr hat still gewartet. "Klirr?" fragt Frost leise. "Hmmm?" macht sein Freund und hebt langsam den Kopf. "Ich glaube, wir haben es richtig gemacht, das mit der Hütte, meine ich. So kann der kalte Nachtwind sie nicht erreichen." "Hmmm." macht Klirr wieder. Seine Augen sind auf den Eingang des Tales gerichtet. Niemand wird kommen, denkt er, alles ist vergebens gewesen. Die Menschen sind schon erfroren und wer weiß, wo ihre Herzen hingehen in einer so kalten Nacht. Flocke wird zurückkommen und berichten, dass sich die Sterblichen in dem Dorf nicht um ihre Warnung gekümmert und sie fortgeschickt haben, wenn sie überhaupt Notiz von ihr nahmen. So sind sie, die Sterblichen. Immer leben sie gegen die Natur, immer im Kampf mit ihr. Niemals sehen sie, dass die Natur eben einfach so ist, wie sie ist, ohne Bosheit und ohne Arglist. Warum gibt es denn die Naturgeister, all die Kobolde, die Elfen, Feen und Zwerge? Doch nur, um die sterblichen Wesen mit der Natur zu versöhnen, um sie ihnen näher zu bringen. Warum haben denn er und Frost diese Schneehütte gebaut, wenn nicht, um diese Menschen nicht Opfer einer Laune des Winters werden zu lassen. Wann werden die sterblichen Wesen endlich die Natur so annehmen wie sie ist, so wie diese sie selbst annimmt wie sie sind. Was bleibt ihr auch anderes übrig? Je länger Klirr so da sitzt, desto bitterer wird ihm zumute. Er meint zu verstehen, warum Frost den Menschen so enttäuscht gegenübersteht. Ob Oberon all das gewusst hat als er die Naturgeister um sich scharte und ihnen gebot gut und freundlich zu sein? Eben will Klirr sich nach Frost umschauen, um ihm vorzuschlagen, wieder zu gehen und die Menschen ihrem Schicksal zu überlassen, da hört er einen Wind das Tal hinaufheulen. Es ist Flocke, er erkennt es am Ton.

Vorneweg stürmt Biekort. Wie ein Pflug arbeitet er sich durch den Schnee und hinterlässt eine Schneise für die anderen Leute des Dorfes. Hinter ihm geht Nista, es fällt ihr merklich schwer und sie atmet schnell und heftig. Fackeln erhellen die Nacht und werfen tanzende Schatten auf die Schneedecke. Endlich ist der Einstieg zum Tal erreicht. Biekort fällt unvermittelt leicht nach vorn. Vor ihm ist der Schnee beiseite geräumt und eine Schneise führt in das Tal hinein. Wie ein ausgetrocknetes Flussbett sieht es aus und der Wind fegt hindurch und wirbelt Wolken von Flocken auf. Die Dorfbewohner bleiben stehen. Biekort rappelt sich wieder auf und klopft sich den Schnee von den Kleidern. Hinter ihm hört er es flüstern . "Was ist das?" und "Es ist, als würden wir erwartet!". Unentschlossen bleiben alle stehen, die Woge verebbt. Sie werden sich plötzlich bewusst, wo sie eigentlich sind; in einem winterlichen Tal, bei Nacht und Eiseskälte, und jeden Moment kann eine Lawine heruntergehen. Ängstlich sehen die Dorfbewohner die Wände des Tales hinauf. Dort oben lauert der weiße Tod, und sie denken an ihre Familien daheim, und daran, dass es Irrsinn ist, sich jetzt hier heraufzuwagen. Nista steht zwischen ihnen, auch sie ist unentschlossen, aber aus einem anderen Grund. Jetzt wird sie bald wissen, was aus ihrem Mann und den Kindern geworden ist. Aber, will sie es überhaupt wissen? Was ist, wenn sie tot dort oben liegen, erfroren, steif und ohne Leben? Will sie die Wahrheit wissen?

"Flocke!" "Flocke!" Frost und Klirr springen von ihrem Schneehaufen herunter. Tatsächlich kommt sie das Tal hinaufgefegt. Kurz vor den beiden bleibt sie stehen: "Sie kommen, sie kommen!!" Dann sieht sie sich um. "Wo sind denn die drei Menschen? Wo sind sie? Ist eine weitere Lawine heruntergegangen? Oh, nein!" Frost weht ihr entgegen. "Nein, Flocke, wir haben sie in einem Schneehaus untergebracht. Du stehst gerade darauf!" Flocke atmet erleichtert auf. "Seid ihr aber auch sicher, dass sie noch am Leben sind?" Klirr zuckt mit den Schultern: "Keine Ahnung, soweit kennen wir uns mit Menschen nicht aus." Und dann sehen sich alle drei ratlos an. Frost unterbricht das Schweigen. "Wie hast du die Leute dazu gebracht, dir zu folgen?" Flocke wird wieder lebhaft:" Es war sehr schwierig. Ich habe gleich am ersten Haus Licht gesehen und als ich in ein Fenster schaute war das Gesicht einer Menschenfrau direkt vor mir. Ich habe mich ganz schön erschrocken." "Das hätte ich wohl auch." wirft Klirr ein. "Ja," fährt Flocke fort, "und dann habe ich alles was passiert ist in Eis auf ihr Fenster gemalt. Sie hat es sofort verstanden und hat viele andere Menschen geholt. Mit denen ist sie jetzt auf dem Weg hier herauf. Eigentlich müsste man ihre Fackeln schon sehen." Von dem Feuerkobold erzählt sie nichts. Wie sollten Klirr und Frost auch verstehen, was sie in diesem Moment empfunden hatte. Frost würde vielleicht eifersüchtig werden. Und Klirr? Bei ihm wusste man nie, wie er so seltsame Dinge aufnehmen würde. Frost unterbricht ihre Gedanken. "Ich kann Licht sehen, tatsächlich sind es Fackeln, und die Menschen kann man rufen hören." "Sie werden eine weitere Lawine auslösen, wenn sie nicht aufpassen. Aber ich werde sie dann nicht ausgraben." Klirr ist plötzlich unerwartet mürrisch und schaut den dunklen Hang hinauf. "Lasst uns verschwinden, die werden nicht alle so verständig sein, wie die Frau am Fenster." Flocke sieht unglücklich drein. Sie wüsste so gern, ob es gelingen wird, die drei Sterblichen zu retten. Aber auch Frost ist der Ansicht, dass sie sich den Leuten nicht zeigen sollten. "Klirr hat recht," sagt er, "aber wir sollten noch einen Eingang in das Schneehaus machen, damit sie ihre Leute finden."

Nista hat ihre Ängste und dunklen Gedanken beiseite geschoben. Zuletzt hatte sie sogar begonnen daran zu zweifeln, ob der kleine Schneekobold überhaupt da gewesen war, und ob sie all die Dorfbewohner völlig umsonst in Gefahr brachte. Aber das ist alles Unsinn. Seit ihrer Kindheit lebte sie mit den Geistern der Natur in Freundschaft. Niemals würde eines von ihnen sie an der Nase herumführen, nicht wenn es wichtig ist zumindest. Und das hier ist wichtig.

Biekort hat wieder aufgeholt. Er war zurückgeblieben, als Nista plötzlich losstürzte. "Du bist die sicher, hmm?" fragt er leise und außer Atem. Nista nickt stumm. Nicht auszudenken, wie sie das Tal hätten erklimmen sollen, wenn die Schneise nicht wäre. Aber so kommen sie schnell voran. Hinter ihnen hören sie die Stimmen der Dorfleute. Es müsse doch jetzt bald soweit sein, murmeln sie und schauen ängstlich die schwarzen Hänge des Sommertales hinauf. Wer ihm wohl diesen Namen gegeben hat? Es musste etwa die dritte Stunde nach Sonnenuntergang sein und die Kälte wurde von Moment zu Moment stärker.

"Da!" ruft Biekort plötzlich, "Da ist was!" Alle werden noch einmal schneller, aus ihren Mündern dringen weiße Schwaden, als seien sie allesamt Schneedrachen auf Nachtwanderung. Vor Nista und Biekort tut sich eine schwarze Öffnung auf. Sie ist ungefähr halb so hoch wie Nista selbst und scheint in einen großen Schneehaufen hineinzuführen. Die Schneise endet hier. Der einzige Weg führt da hinein. Biekort beugt sich vor und leuchtet mit einer Fackel in den Gang. Dann dreht er sich um und sieht Nista fragend an. "Soll ich ...?" In diesem Augenblick klappert es in der Kohlepfanne, die Nista immer noch in der Hand hält. Vorsichtig schiebt sich der Deckel auf und eine kleine Flammenzunge schießt hervor. "Was ist, sind wir endlich da? Wo sind Kirsta, Alnik und Rodnik?" fragt Rotglüh in seiner knisternden Stimme. "Sie sind da drin!" sagt Nista laut sowohl zu Rotglüh, als auch zu den Dorfleuten. Die versammeln sich gerade um die Öffnung und diskutieren darüber, was das wohl sei und wer zuerst hineingehen sollte. Nista beantwortet diese Frage. "Lasst mich durch, ich gehe hinein, mein Mann und meine Kinder sind da drin!" Wie hatte sie nur jemals zweifeln können!? Sie kniet sich vor die Höhlung und setzt die Kohlepfanne vor sich auf den Boden. Es zischt laut und Dampfwolken quellen hervor. Die Pfanne vor sich herschiebend kriecht sie langsam in den Tunnel hinein. Vorne öffnet Rotglüh die Klappe der Pfanne und sein Feuer erleuchtet das Innere des Schneetunnels.

Nista muss nicht weit kriechen. Nach fünf Schritt öffnet sich eine kleine Höhle und im Schein des Feuerkoboldes sieht sie drei Gestalten auf dem Boden liegen. "Ich hab' sie, sie sind hier! Kommt schnell!"

In die Menge vor dem Eingang kommt Leben. "Lasst mich durch." ertönt eine Stimme, "So lasst mich doch durch!" Eine Frau drängt sich nach vorne. Sie ist in einen flauschigen, grauen Mantel gehüllt, der unverkennbar aus dem Fell eines Kaninchenbüffels gemacht ist. Ihr Name ist Ungrit und sie kommt aus Vül dhio Nedeih. Ihre Haut ist bronzefarben und ihre Augen leuchten in hellem Blau. Die Leute lassen sie nur zögernd durch, eigentlich hat niemand bemerkt, dass sie überhaupt mitgekommen ist. Es hatte ihr auch keiner bescheid gesagt, denn Ungrit lebt erst seit wenigen Wochen im Dorf. Aber sie ist Heilerin und sollten sie alle noch so missbilligend schauen, dies hier ist ihre Aufgabe. "Ich bin Heilerin!" sagt sie, als es ihr gelungen ist, sich bis zu der Öffnung vorzudrängen und schaut angriffslustig in die Gesichter der Dorfleute. Aber niemand hält sie auf, als sie sich umdreht und in den Schneehaufen hineinkriecht. Von drinnen ist wieder Nistas Stimme zu hören: "Kommt denn nun endlich jemand!?" Die Leute sehen Biekort an, aber der zuckt nur mit den Schultern und beugt sich wieder zur Höhlung hinunter. Soviel Seltsames ist an diesem Abend schon passiert, dass er sich über nichts mehr wundern mag. Abgesehen davon gibt es im Augenblick Wichtigeres zu tun.

Oben am Berghang stehen im Dunkel drei kleine Kobolde und beobachten die Menschen im Tal. Ab und zu weht der Wind ein paar Wortfetzen herauf und man kann sehen, dass die Leute sehr aufgeregt sind. Zwei von ihnen sind in das Schneehaus gekrochen und jetzt ziehen sie drei weitere Gestalten hinaus. Diese drei sind leblos und werden von den Menschen auf, mit Decken bespannte Holzgestelle gelegt. Eine Person zieht ihren dicken, grauen Mantel aus und bedeckt damit eine von den kleineren Personen auf den Gestellen.

"Sieh dir das an," sagt Frost erstaunt, "sie friert überhaupt nicht, ob sie eine Elfe ist?" Flocke schüttelt den Kopf. "Nein, sie friert, schau wie sie zittert. Das machen Menschen, wenn ihnen kalt ist." "Ja, und auch nur Menschen sind so dumm, ihre schützenden Felle bei nächtlicher Eiseskälte auszuziehen!" wirft Klirr bitter dazwischen. Flocke fährt herum: "Und nur Menschen sind so dumm, einander in der Not zu helfen, nicht wahr ?!" Ihre Eisaugen blitzen sogar in der dunklen Nacht, sodass Klirr erschrocken zurückfährt. Frost legt beruhigend seinen Arm um ihre Schulter. Aber Flocke will keinen Trost. Unten im Tal schieben die Sterblichen einen großen Löffel zu einem der Leblosen unter das Lager, und kurz bevor er darin verschwindet sieht man eine Flammenzunge kurz aufzüngeln. Der Wind weht ein leises Knistern zu den Kobolden herauf. Frost und Klirr heben wie fröstelnd die Schultern. "Huh," macht Frost, " sie haben Feuer mitgebracht. Ich glaube es ist besser, wenn wir jetzt gehen." Einen Augenblick später hört man den Wind wie einen Wirbel den Hang hinauf pfeifen. Die Menschen sehen erschrocken auf, aber das Donnern einer Lawine bleibt aus, und sie wenden sich wieder einander zu.

Im flackernden Schein der Flamme kommt Ungrit in die Höhle gekrochen. Nista kniet neben ihrem Mann und hat eines der Kinder auf dem Schoß. Ihre Augen sind voll Tränen und sie wiegt das Kind leise hin und her. "Sie sind so kalt." sagt sie erstickt und blickt auf. Verzweiflung und Erstaunen streiten in ihren Augen. Aber Ungrit lässt ihr keine Zeit, sich zu entscheiden. Sie kriecht zu dem zweiten Kind, ein Junge, der neben dem Mann liegt. Sein Gesicht ist schon ganz blau vor Kälte. Sie wirft ihren Mantel ab, kniet sich vor das Kind und schließt einen Moment die Augen. Vor sich sieht sie in das Gesicht von Schattenschwinge, ihrem Lehrmeister. Er sitzt auf einem großen, mächtigen Wolf, wie an dem Tag, als er sie verlassen hat, um auf die Geisterinsel zurückzukehren. Und er spricht zu ihr, wie er es an jenem letzten Tag getan hat : "Denke immer daran, Ungrit: Die Kraft leuchtet in deinem Herzen. Du kannst sie mit vollen Händen schöpfen. Aber niemals darf ein Zweifel darüber liegen, sonst ist die Quelle verschlossen.!" Ungrits Quelle ist nicht verschlossen, sie leuchtet in ihrem Innern. Sie holt tief Luft und erfüllt ihren Atem mit der wärmenden Kraft des Lebens. Dann öffnet sie den Mund des Jungen und haucht ihm den Odem ein. Es ist kalt da drin und der wärmende Odem verliert langsam seine Kraft. Ganz unten aber, in der Tiefe des Körpers schwelt noch ein Funke. Von dem Hauch angefacht glimmt er auf. Ungrit versucht es noch einmal, der Funke darf nicht verlöschen! Panik steigt in ihr auf. Der Funke wird nicht verlöschen, Ungrit. Vertraue! Hauch für Hauch glimmt das Leben in dem Jungen ein bisschen heller und plötzlich züngelt eine kleine Flamme daraus hervor. Aus dem Mund des Jungen dringen weiße Wölkchen. Er atmet.

Mit dem kleinen Mädchen ist es leichter. Es hat am Körper des Vaters gelegen und die Kälte hat es nicht so stark verzehren können. Der Mann schließlich öffnet sogar kurz die Augen. Er ist stark und sein Feuer brennt heiß. Es brennt für zwei.

Nista hatte die ganze Zeit kein Wort gesagt. Mit großen Augen hat sie die fremde Frau beobachtet. Wer ist sie? Richtig, sie heißt Ungrit, oder so ähnlich und kommt aus der Vül dhio Nedeih, wo die großen weichen Büffel leben. Sie sieht seltsam aus und sie spricht kein Wort. Sie beugt sich über ihren Sohn und gibt ihm Atem. Als Alnik beginnt, wieder zu atmen hat Nista keine Zweifel mehr. Ohne ein Wort hält sie der Frau ihre Tochter entgegen. Bitte, sagen ihre Augen, lass sie leben.

Draußen im Tal scheint eine Ewigkeit zu vergehen. Die Leute murmeln und treten von einem Fuß auf den anderen. Die Kälte beginnt ihre gnadenlosen Finger durch die Ritzen ihrer Kleider zu stecken und die Angst vor einer neuen Lawine wächst. Man hört erleichtertes Seufzen, als endlich Nista ihren Kopf aus dem Schneeloch steckt. Ihr Gesicht strahlt und man sieht, dass sie geweint hat. "Sie leben, bringt die Tragen." Dann kriecht wieder hinein und kommt kurz danach rückwärts hinaus. An seinen Schultern zieht sie Alnik hervor. Viele hilfreiche Hände greifen nach dem Jungen und legen ihn vorsichtig auf ein, mit Decken bespanntes Holzgestell. Gelobt sei der, der daran dachte sie mitzubringen. Biekort hat derweil Rodnik hervorgezogen und aus der Eishöhle kommt als letzte Ungrit mit Kirsta gekrochen. Alle Leute sind erleichtert und schwatzen leise. Die ersten machen sich schon mit einer Trage auf den Weg nach Hause. Da hört man es aus der Höhle kläglich prasseln und eine leise knisternde Stimme ruft: "Nista, Nista, hast du ich vergessen!?". Biekort schaut Nista erstaunt an und die schlägt erschrocken die Hand vor den Mund. "Rotglüh!"

Diesmal kriecht Biekort in den Gang. Es ist sehr eng und er stößt überall an. So also muss man sich in einer Lawine fühlen, denkt er schaudernd. Vor sich sieht er einen Raum, der von einem diffusen, roten Licht erfüllt ist. Die Luft ist feucht und in der Mitte des Raumes sieht er die Kohlepfanne in einer großen Pfütze stehen. Rotglüh sitzt auf ihrem Deckel, da das Wasser droht, jeden Moment in die Pfanne zu fließen. Er sieht böse und enttäuscht drein, sein Körper glüht nur noch schwach. Betroffen zieht Biekort als erstes die Pfanne aus der Pfütze. "Entschuldige, Rotglüh." murmelt er leise und hält einladend den Deckel auf. Die Kohlen in dem Behältnis sind schon fast erloschen als der Feuerkobold hineinklettert. Aber plötzlich leuchten die Augen des Wirtes auf und er zieht einige Holzstückchen aus seiner Tasche. Einen Augenblick später bringt er auch noch einige Fetzen Papier zutage und legt beides zu Rotglüh in die Kohlen. Der macht sich als erstes über das Papier her. Sofort lodert es hell auf und man kann zusehen, wie der Feuerkobold an Kraft gewinnt. Als er aber das erste Holzstück verzehren will hält er inne. Es ist nicht einfach ein Stück Holz, es ist ein kleines Pferdchen, so wie es Kirsta in ihrem kleinen Bauernhof hatte. Aber Biekort lächelt den Kobold an: "Nimm es! ", sagt er und sein Gesicht leuchtet, nicht nur im Schein der Flamme. "Es ist die schönste Bestimmung, die es haben kann." Als der Wirt die Klappe schließt hört er es drinnen prasseln und knacken. Schnell kriecht mit der Pfanne wieder durch den Gang nach draußen.

Dort empfängt ihn das betretene Gesicht von Nista. Sie nimmt Biekort die Pfanne ab und schiebt sie zu Rodnik auf die Trage. Leise flüstert sie dazu: "Verzeih, kleiner Freund, aber brenne nicht zu heiß, die Kohlepfanne liegt an Rodnik, um ihn zu wärmen." Es bleibt still. Zaghaft hebt Nista den Deckel ein wenig an. Da züngelt heftig ein Flämmchen heraus und sie kann mühsam ein gezischtes: "Mach' schon zu !" verstehen. Leise seufzend schiebt sie daraufhin die Pfanne zu Rodnik unter die Decke.

"Lasst uns gehen!" hört man Ungrits tiefe Stimme sagen. Sie trägt Kirsta auf dem Arm und hat ihren grauen Mantel über sie gelegt. Ihre Augen sind ein wenig glasig und kleine Schweißperlen stehen auf ihrer Stirn. Aber sie ist zufrieden und fühlt sich zu ersten Mal in dieser Gegend zu Hause. Torik geht zu ihr, als sie sich dem Tal zuwendet und stützt sie, wenn der Weg uneben wird. Hinter ihnen nehmen Snorat und Biekort die Trage auf und der ganze Zug bewegt sich das Sommertal hinunter zu Dorf.

Flocke steht noch immer am dunklen Hang und sieht den Menschen nach. Nein, eigentlich sieht sie dem Feuerkobold nach. Niemals wird sie diese Lücke in ihrem Herzen füllen können, und es geht ihr auf, wie einseitig doch das Leben als Schneekobold ist. Immer nur Schnee, immer nur Kälte, immer nur in einer Welt leben die für die meisten anderen Wesen feindlich ist. Und, was das Schlimmste ist, immer verkannt werden. Als die letzte Fackel am Talende verschwindet wird es dunkel und Flocke friert plötzlich. Die Kälte beißt sie von allen Seiten und in ihrem Innern brennt ein Feuer, das mit verzweifelter Wut gegen die Kälte ankämpft. Aber, denkt sich Flocke, brennt nicht in jedem die Sehnsucht, das zu erlangen, was er nicht erreichen kann? Liegt vielleicht im Herzen dieses Feuerkoboldes jetzt ein Klumpen aus Eis, den er kaum zu schmelzen vermag? Hat nicht jeder die Pflicht, sein Schicksal zum Wohle aller zu lenken und wenn es sein muss auch zu ertragen! "Ja," sagt Flocke laut, und hebt den Kopf in die Nacht, "das hat uns König Oberon gelehrt." Langsam kühlt sich ihr Körper ab. Sanft treibt der Winter das Feuer in ihrem Innern zurück, bis nur noch ein kleiner, glühender Funke zurückbleibt, eingeschlossen in ihrem Herzen.

Als die Sonne über den Rand der verschneiten Berge schaut steht Flocke noch immer im Sommertal. Aber ihr Gesicht ist fröhlich und ihr Mund lacht, wie es sich für einen Kobold gehört. Erste Strahlenfinger des Morgenlichtes tasten die Hänge des Tales und fangen sich glitzernd in dem durchscheinenden, glänzenden Eis von Flockes Körper. Flocke schaut an sich hinunter. Tatsächlich ist sie nicht mehr weiß wie der Schnee sondern vollkommen aus klarem Eis. Nur in ihrer Brust ist ein kleiner Einschluss, der sanft das Eis um sich erleuchtet. So also, denkt Flocke langsam, so also werden Eiskobolde gemacht. In heißer Sehnsucht muss man schmelzen und dann erstarken in neuem Glanz. Und bevor sie sich auf den Weg macht, ihre Freunde zu suchen fragt sie sich noch, welchen Funken wohl Klirr in seiner Brust trägt.

1996 Gnisseldrix (FOLLOW 354 - Storyteil)